Tränen beim Filmfest in Venedig: Dieser Film schockt alle

Audio von Carbonatix
Proteste gegen Israels Gaza-Krieg waren angekündigt, die Demonstration mit Tausenden Teilnehmern hatte am Samstag sogar das Festival erreicht. Alberto Barbera hatte darauf bestanden, neutral zu bleiben in der Gaza-Kriegsfrage - aber als Biennale-Direktor wusste er, was er an diesem Mittwoch im Wettbewerb zeigen würde: „Die Stimme von Hind Rajab“.
Wenn Kritiker um Fassung ringen
Am Ende weinten viele einfach, andere rangen um Fassung - und in der Pressevorführung versuchten Kritiker noch, sich innerlich gegen den Film zu wehren, Distanz zu bekommen, indem sie ihn nach Schwächen absuchten: Aber die Wirklichkeit dieses Films ist einfach zu stark. Denn Regisseurin Kaouther Ben Hania hat 90 Minuten lang ein Mädchen live mitsprechen lassen: die sechsjährige Hind Rajab, ab Nachmittag des 29. Januar 2024, während der Evakuierung eines nördlichen Teils des Gazastreifens, am Handy, im Originalton - aufgenommen von der Rettungszentrale des Roten Halbmonds im Westjordanland, 75 Kilometer entfernt, wo das Mädchen mit Geschwistern, Tante und Onkel in einem Auto sitzt - und um Hilfe bittet: kindlich, panisch, immer wiederholend, dass jemand kommen soll und sie rausholen.
Anfangs sagt sie noch, dass die anderen im Auto schliefen, auch wenn es soviel Blut gibt. Dann gibt sie vor sich selber - den Mitarbeitern am Telefon und dem Zuschauer - zu, was alle schon ahnen: Alle sind tot neben ihr, der vollgepackte Familienwagen ist immer unter Beschuss, was man hören kann. Um 7.30 Uhr abends bricht die Verbindung ab. Der Rest ist Schweigen.

Der Spielfilm mit der Originaltonspur spielt ausschließlich in der Rettungszentrale. Hier wird alles versucht, einen Rettungswagen in das abgesperrte, beschossene Gebiet zu ihr zu schicken - ein Himmelfahrtskommando und ein bürokratischer Wahnsinn: Die Kommunikationswege führen über das Rote Kreuz, das wiederum mit dem israelischen Militär verhandelt und wieder zurück - für ein „Grünes Licht“, einen Krankenwagen auf einer freigegebenen Strecke hineinzulassen. Währenddessen sprechen ein Mitarbeiter und eine Mitarbeiterin, und nach deren Zusammenbruch die Mitarbeiterpsychologin mit dem Mädchen, ermutigen es, durchzuhalten, Hilfe versprechen, von der sie nicht wissen, ob sie jemals kommen wird.
Der Film wird zum Problem für die Jury
Am Ende gab es Schluchzen und Beifall und ein paar aufgebrachte Protestrufe, die fast zu einer Handgreiflichkeit geführt hätten. Was dieser Einbruch der Wirklichkeit mit dem Wettbewerb am Lido und bei der Jury unter US-Regisseur Alexander Payne auslöst ist unklar, weil die Sache viel zu brisant ist. Prämiert man „Die Stimme von Hind Rajab“, sieht es nach Gesinnungspreis aus, zeichnet man ihn nicht aus, hat man die Kraft des Kinos nicht verstanden, auch wenn der Film natürlich in seiner berechneten Suggestivität und Überwältigung auch Zweifel aufwirft - zum Beispiel, inwieweit man die Würde des Mädchens verletzt, wenn man ihre Stimme hernimmt, Kinderbilder von ihr, am Ende sogar die wirkliche Mutter zeigt, so dass Fiktion und Dokumentarfilm völlig verschwimmen.

Aber eine große Wahrhaftigkeit kann man der tunesischen Regisseurin Kaouther Ben Hania nicht absprechen. Im Abspann kann man dann die Namen vieler wichtiger Hollywoodgrößen als Produzenten über die Leinwand gehen sehen: Brad Pitt, Joaquin Phoenix, Rooney Mara sowie der Mexikaner Alfonso Cuarón und der Brite Jonathan Glazer („The Zone of Interest“).
Ähnliche Größen waren dann als Kontrastprogramm hier am Lido in eine riesige Albernheit verwickelt: der Film des Künstler-Regisseurs Julian Schnabel „In the Hand of Dante“. Denn in diesem strukturlosen, prätentiösen Film wirken Oscar Isaac (als Dante Alighieri), Al Pacino (als Großvater), John Malkovich (als mafiöser Kunstraubauftraggeber), Franco Nero und sogar Martin Scorsese (als Rabbi) mit. Gerard Butler (als Killer) und Gal Gadot (als Dantes Frau) haben ihr Kommen zum Lido abgesagt, weil sie wegen ihrer pro-israelischen Haltung nicht noch größere Unruhe in die 82. Filmbiennale bringen wollten.

Die Gala für „In the Hand of Dante“ mit einer Ehrung für Julian Schnabel (Premio Cartier für einen „gloriösen Filmemacher“) war gleich nach „The Voice of Hind Rajab“ angesetzt, mit dem Puffer eines belanglosen italienischen Films über die Schauspiellegende der vorletzten Jahrhundertwende dazwischen: Eleonora Duse - wenigstens packend gespielt von Valeria Bruno Tedeschi. Womit sich das Festival fast erschöpft hat.
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