Tischgespräche über die Filmfestspiele von Venedig in der Trattoria

Ein Blick in den Espressosatz vor der Entscheidung der Jury über den Preisträger des Goldenen Löwen der Filmfestspiele von Venedig
von  Adrian Prechtel
Ein Favorit für einen Löwen: Jude Law als Putin mit Paul Dano in „Der Magier im Kreml“.
Ein Favorit für einen Löwen: Jude Law als Putin mit Paul Dano in „Der Magier im Kreml“. © Carole Bethuel

Mitternächtlich sitzt noch ein Tisch mit einem deutschen Filmteam in der spätsommerlichen Nachtluft. Nach einem Start mit Clooney im frühherbstlichen Regen, ist in Venedig zum Ende des Filmfestivals jetzt wieder richtig warm geworden. Im lässigen Strandrestaurant Marconi - schon etwas abseits des Festivaltrubels - werden die leeren Tische zusammengeschoben, die junge Luna Wedler („22 Bahnen“) lacht laut und der alte Martin Wuttke stimmt mit ein.

Der Presse war gerade ein letzter Wettbewerbsfilm vorgeführt worden - von der Ungarin Ildikó Enyedi, eine Arthauskino-Ikone („Körper und Seele“). Im Film wird auch viel deutsch gesprochen - neben Wedler und Wuttke, sind auch noch Rainer Bock und Johannes Hegemann zu sehen. Und es ist viel deutsches Fördergeld drin, so dass man „Silent Friend“ auch als deutschen Beitrag im Wettbewerb sehen könnte.

Die nationale Frage wird am Lido traditionell über die Regie entschieden. Egal, aber wie in Cannes mit dem einzigen deutschen Beitrag „In die Sonne schauen“, ist es mit „Silent“ das gleiche Problem: Der Film über die Frage, ob Pflanzen uns wahrnehmen und mit uns kommunizieren, ist so verkopft, sogar leicht esoterisch, auch wenn es um botanische Forschungen an einer deutschen Uni geht, dass man sich fragt, wer ein Drehbuch durchgewunken hat, das alle Fragen offenlässt.

Eine Szene aus dem esoterisch angehauchten Film „Silent Friend“.
Eine Szene aus dem esoterisch angehauchten Film „Silent Friend“. © Lenke Szilagyi

Weinen im Saal

Ob dieser Film unter den 21 Wettbewerbsfilmen der Jury preiswürdig vorkommt? Die ist mit dem US-Regisseur Alexander Payne („Sideways“, „The Holdovers“) an der Spitze relativ klassisch besetzt. Jetzt müssen er und seine sechs Mitstreiterinnen und -streiter (darunter auch der iranische Regisseur Mohammad Rasoulof) den Goldenen Löwen und Spezialpreise vergeben.

Vor sich haben sie auch einige politische Filme, die auf diesem Festival klar am stärksten gefeiert wurden - sowohl vom Publikum als auch von der internationalen Kritik. Bei der Kritik wird die Zustimmung über einen großen Pressespiegel ermittelt, beim Publikum wird - etwas zweifelhaft - die Stimmung im Saal über die Länge des Schlussapplauses bestimmt.

Saja Kilani (von links), Clara Khoury, der israelische Schauspieler Amel Hlehel und Motaz Malhees stehen mit einem Foto des palästinensischen Mädchens Hind Rajab auf dem roten Teppich für den Film „The Voice of Hind Rajab“ während der 82. Ausgabe der Filmfestspiele von Venedig.
Saja Kilani (von links), Clara Khoury, der israelische Schauspieler Amel Hlehel und Motaz Malhees stehen mit einem Foto des palästinensischen Mädchens Hind Rajab auf dem roten Teppich für den Film „The Voice of Hind Rajab“ während der 82. Ausgabe der Filmfestspiele von Venedig. © picture alliance/dpa/ZUMA Press Wire

Und da hat der Mittwochabend den Lido am meisten erschüttert: In der Sala Grande im Palazzo del Cinema war die Hölle los, als nach kurzer Schockstille in den Abspann des Films „Die Stimme von Hind Rajab“ der nachdrückliche Applaus begann - 23 Minuten lang, ein berechtigter Rekord der 82. Filmbiennale.

Jetzt stellt sich nur die Frage, ob man einen Film, der die Massaker der israelischen Armee an der Zivilbevölkerung in Gaza zum Thema hat, den Goldenen Löwen geben kann. Politisch schwierig - und so tippen viele, dass „Die Stimme von Hind Rajab“ der Tunesierin Kaouter Ben Hania nur den Großen Preis der Jury in Form eines Silbernen Löwen bekommen wird.

Wer wird der italienische Preisträger?

Auch steht die Frage im Raum, was die Jury mit den italienischen Beiträgen macht? Denn traditionell bekommt seit 1932 mindestens ein Film oder Künstler des Gastgeberlandes einen Preis. Dies ist man dem Lokalpatriotismus schuldig. Und die Rechts-Regierung in Rom hat bereits einen Biennale-Präsidenten in ihrem nationalen Sinne eingesetzt, was den bisherigen Filmbiennale-Direktor Alberto Barbera aber nicht sonderlich beeindruckt hat.

Aber natürlich ist es möglich, den konventionellen Spielfilm über den frühen italienischen Superstar, die Tragödin Eleonora Duse (1858 - 1924), im Wettbewerb als nationalistisches Zugeständnis zu werten, schließlich kommen hier Mussolini (harmlos charmant) und der nationalistische Nationaldichter Gabriele D’Annunzio (schöngeistig, narzisstisch) unkritisch vor.

Valeria Bruni Tedeschi als alternder Schauspielstar Eleonora Duse (mit Fanni Wrochna).
Valeria Bruni Tedeschi als alternder Schauspielstar Eleonora Duse (mit Fanni Wrochna). © Erika Cuenca

So könnte man auch der immer gut spielenden Valeria Bruno Tedeschi (als die alte Duse) den Darstellerinnenpreis geben, wäre da nicht bereits der italienische Eröffnungsfilm von Paolo Sorrentino ein so großartiger Auftakt gewesen: „La Grazia“ ist das Porträt eines fiktiven Präsidenten der italienischen Republik als konservativem Garanten gegen Vulgarität und politische Zwielichtigkeit - mit dem italienischen Schauspielheroen Toni Servillo in der Hauptrolle. So wird sich schon ein italienischer Preisträger finden, auch weil der kunstvolle, klischeelose Dokumentarfilm über Neapel, „Sotto le nuvole“ von Gianfranco Rosi zu Recht überall sehr gut ankam.

Lebendiger und charmanter wie Cannes

Ohnehin war das Wettbewerbsniveau ab Beginn fast durchgehend aufregend hoch. So war es auch für sehr gute Filme schwer herauszuragen, was das Preis-Rätselraten diesmal noch mehr zu einem Kaffeesatzlesen macht. Aber in der Spitzenklasse des diesjährigen Wettbewerbs werden noch die Putin- und Russlandanalyse „Der Magier im Kreml“ von Olivier Assayas und Kathryn Bigelows neue Warnung vor einem Atomkrieg, „A House of Dynamite“ sehr hoch gehandelt.

Seit Jahren ist das Festival in Venedig auch Auftakt zum Oscarrennen, was „Gravity“ und „La La Land“ beweisen oder auch „Poor Things“ und „The Shape of Water“. Yorgos Lanthimos („Bugonia“ mit Emma Stone) und Guillermo del Toro („Frankenstein“) waren auch diesmal wieder mit Filmen vertreten. Und was den US-Beitrag „Jay Kelly“ von Noah Baumbach anbelangt, war der vielleicht etwas zu leichtgewichtig, um gleich oscarverdächtig zu sein, auch wenn eine Auszeichnung für George Clooney als bester Darsteller hier wie dort möglich wäre.

Alberto Barbera, künstlerischer Leiter, und Alexander Payne, Präsident der Jury, am Hotel Excelsior auf dem Weg zur Pressekonferenz der Jury bei der 82. Ausgabe der Filmfestspiele von Venedig.
Alberto Barbera, künstlerischer Leiter, und Alexander Payne, Präsident der Jury, am Hotel Excelsior auf dem Weg zur Pressekonferenz der Jury bei der 82. Ausgabe der Filmfestspiele von Venedig. © picture alliance/dpa/IPA via ZUMA Press

Kommendes Jahr geht hier am Lido eine Ära zu Ende, wenn der Festivaldirektor Alberto Barbera mit 76 Jahren aufhört. Er wird dann noch einmal versuchen zu zeigen, dass Cannes vielleicht als das wichtigste Filmfestival der Welt gilt, aber Venedig hier seit seinem Amtsantritt 2012 sich auf Augenhöhe hochgearbeitet hat. Und weil das Festival am Lido nicht nur dem Fachpublikum und der Branche gilt, sondern auch normales Publikum zulässt, ist die Mostra internationale d’Arte cinematografica lebendiger und charmanter - bis hinein in die Spätsommerabende in den Trattorien und Strandbars zwischen Lagune und Adria.

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