"The Unforgivable": Schuld und Sühne
Sie ist isoliert, unberechenbar, ausgegrenzt von der Gesellschaft und ständig auf der Suche nach Nähe, einer Familie. Soweit sie noch existiert. Und damit hat Ruth (Sandra Bullock), die so heftig abgelehnt wird wie sie schutzbedürftig ist, auch ganz viel von Benni, der blonden von Helena Zengel so herausragend verkörperten Systemsprengerin, die vor fast drei Jahren auf der Berlinale verstörte und begeisterte.
Sandra Bullock besticht als Ex-Sträfling
Umso verständlicher die Entscheidung von Netflix, die Verantwortung ihres Sandra-Bullock-Dramas "The Unforgivable" in die Hände der gleichen Regisseurin, Nora Fingscheidt, zu legen. Hinter der mutigen Entscheidung - immerhin ist "The Unforgivable" erst der zweite Spielfilm der gebürtigen Braunschweigerin - steht neben "Systemsprenger"-Fan Sandra Bullock auch Veronica Ferres, die mit ihrer Firma Construction Filmproduktion das auf einer britischen Miniserie beruhende Projekt unterstützt.
Umso enttäuschter dürfte man aus den USA die ersten kritischen Reaktionen auf den Film zur Kenntnis genommen haben. Dabei hat "The Unforgivable", der zwischen europäischem Arthauskino und US-Mainstream schwankt, durchaus seine Qualitäten. Vor allem besticht Sandra Bullock, die nach ihrem Triumph mit "Gravity" immer wählerischer wird, in einer ungewöhnlichen, ganz und gar unglamourösen Rolle.
Ungeschminkt, mit fahriger Frisur und eingefrorenen Blick sehen wir ihre Ruth gleich zu Beginn, wie sie emotionslos ein Hochsicherheitsgefängnis verlässt. 20 Jahre saß Ruth dort ein, die Polizistenmörderin. In kurzen über den ganzen Film verteilten Rückblenden enthüllt sich ihre Verzweiflungstat. Die frisch Entlassene weiß um ihre Schuld, versucht sich an die harten Bewährungsauflagen zu halten und klagt auch nicht über ihre schäbige Unterkunft in Seattles Chinatown. Wie ein Roboter funktioniert Ruth in der monotonen Arbeit in einer Fischerei und meidet dabei jeden Kontakt.
Die Motivation zum Weiterleben zieht diese nach außen hin Verlorene rein aus ihrer Vergangenheit, aus der Liebe zu ihrer wesentlich jüngeren Schwester Katie (Aisling Franciosi), von der sie nicht einmal weiß, ob sie denn noch lebt. Parallel zu Ruths Suche nach Katie und damit auch nach einer Form von Erlösung erzählt Fingscheidt von den Rachegedanken der Söhne des einst erschossenen Polizisten und den neuen Besitzern des Hauses, in der die Tragik vor 20 Jahren ihren Lauf nahm.
Am Ende sind diese Handlungslinien etwas viel für einen Film. In der Kürze erklärt sich nicht jede Motivation. Vor allem der Schluss wirkt arg gewollt. Dennoch bleibt Fingscheidts Hollywooddebüt fesselnd, auch dank einer Sandra Bullock, die immer noch bereit ist, gängige Rollenprofile im Hollywood-System mit Gusto zu sprengen.
Ab dem 10. Dezember auf Netflix
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