"Son of Saul": Letzter Akt der Menschlichkeit
Dieser Film muss gegen Vieles ankämpfen. Da ist dieses Gefühl der aufstoßenden Übersättigung mit dem Thema Holocaust – schon das Wort ein Alptraum, dem man lieber aus dem Weg geht. Und damit verbunden die Frage, wie man den unvorstellbaren, industriellen Massenmord überhaupt darstellt? Schließlich gibt es Grenzen. Dessen, was man filmen kann und dessen, was ein Zuschauer mitmacht.
Spielbergs „Schindlers Liste“ war Mitte der 90er ein – auch kommerziell erfolgreicher – Versuch. Und bei aller packender Erschütterung blieb doch ein Zweifel. Darf man melodramatische Musik über den Horror legen? Und, als großer Einwand: Ist das Überleben der Hauptfigur, mit der ich mich identifiziere, nicht eine entlastende Verharmlosung, die davon ablenkt, dass die überwiegende Mehrheit eben nicht überlebt hat?
Der ungarische Oscargewinnerfilm „Son of Saul“ ist das genaue Gegenteil eines Hollywood-Films: Er ist schonungslos, dabei nie gewalt-voyeuristisch. Und er öffnet sich nicht ins Geschichten-Erzählen, sondern folgt konsequent in größter Nähe einem Juden, der dem „Sonderkommando“ zugeteilt ist. Saul Ausländer muss in Auschwitz gemeinsam mit weiteren Abkommandierten den Neuankömmlingen die Kleider abnehmen, sie in die „Duschräume“ führen, die Leichen herauszerren und die Gaskammern saubermachen.
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Inmitten des militärisch geordneten, grausamen Getümmels
Der 38-jährige Regisseur Lázló Nemes findet eine radikale Lösung, diese Tabu-Zone darzustellen. Näher ist man der Mordmaschinerie bisher nicht gekommen, wobei Teile unseres direkten Blicks auf den Tod oder auf den Todeskampf oft durch das Gedränge verstellt wird. Alleine anhand des Rückens von Géza Röhrig, der Saul Ausländer spielt, und an seinem Gesicht kann man ablesen, was das permanente Sein im Zentrum des Todes und der Gewalt mit ihm gemacht hat: Ausgezehrtheit, Abstumpfung, Routine und doch auch noch das Grauen.
Schon in der ersten Szene ist man derart inmitten des militärisch geordneten, grausamen Getümmels, dass man meint, Dreck und Angst riechen zu können. Es herrscht panische Anspannung, eine aufgewühlte Totenstille, durch die Kommandorufe bellen. Und über allem liegt ein mechanisches, brüllendes Maschinen-Stampfen und infernalisches Feuerfauchen.
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Ein Film mit unfassbarer Glaubwürdigkeit
Was aber kann man an diesem Ort erzählen? „Son of Saul“ erzählt, wie Saul meint, unter den Leichen seinen 12-jährigen Sohn zu erkennen und alles daran setzt, dass dieser nicht verbrannt und seine Asche in einen See geschüttet wird. Er soll ein jüdisches Begräbnis bekommen. Er versteckt den toten Körper und sucht unter den Deportierten einen Rabbi. Es ist der Versuch, im bestialischen Todes-Wahnsinn des KZs eine würdige, sinnstiftende Handlung zu begehen – unter ständiger Todesgefahr, die sich an diesem Ort ja kaum noch steigern lässt.
Am Ende hat der Film zwei völlig überraschende Wendungen, die gegen klassische Story-Dramaturgie und Zuschauererwartungen verstoßen. Und auch das gibt dem Film eine unfassbare Glaubwürdigkeit.
Kinos: Arena Filmtheater, Eldorado, Kinos Münchner Freiheit | R.: Lázló Nemes (Ung. 105 Min.)
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