„Silence Radio“: Kein Blatt vor dem Mund
Gerechtigkeit! Dieses Wort ist am Anfang von „Silence Radio“ zu hören, gerufen von einer Frau, noch im Dunkel des Vorspanns. Dann dringt die Kamera in eine Menschenmenge ein, die sich vor dem Innenministerium Mexikos versammelt hat. Die Demonstranten fordern Gerechtigkeit für Javier Valdez, der am 15. Mai 2017 nahe der Redaktion seines Wochenmagazins „Riodoc“ ermordet wurde – Gerechtigkeit für alle Journalisten, die im Kampf gegen die Drogenkartelle umgekommen sind.
Auch Carmen Aristegui befindet sich in der Masse. In einer eindringlichen Rede betont sie, dass die Verantwortung für die Morde auch beim mexikanischen Staat zu suchen ist – einem Staat, der tief in die Verbrechen der Drogenmafia verstrickt ist. Als sie die Demo verlässt, bedanken sich einige Menschen bei Aristegui. „Passen Sie auf sich auf“, meint eine Frau zu ihr, „wir brauchen sie!“
Der Skandal kostete die Moderatorin ihren Job
Zwei Jahre zuvor hatte Regisseurin Juliana Fanjul bei Aristegui angefragt, ob sie sich vorstellen könne, Protagonistin eines Dokumentarfilms zu werden. Im März desselben Jahres war sie, wohl die bekannteste Radiomoderatorin Mexikos, von ihrem Sender entlassen worden. Letztlich war sie der Regierung wieder auf die Füße getreten, hatte enthüllt, dass für Mexikos Präsidenten Enrique Peña Nieto und dessen Gattin eine luxuriöse Villa gebaut worden war, als heimlicher Dank dafür, dass er ein teures, mit chinesischem Geld finanziertes Schnellzug-Projekt bewilligt hatte.
Der Skandal brachte den Präsidenten kurz aus dem Gleis – und kostete Aristegui und ihren Mitstreitern den Job. Zum Schweigen ließ die resolute Grande Dame des mexikanischen Radios sich jedoch nicht bringen: Aristegui mietete Büroräume an und begann mit ihrer Mannschaft, eine eigene Online-Sendung zu produzieren. Wie sie sich diese neue Existenz aufbaute und unermüdlich weiter die Machenschaften der Regierung und die dubiose Vergangenheit des Präsidenten aufdeckte, verfolgten Fanjul und ihr Filmteam hautnah und brachten sich selbst in Gefahr: Bei einem Aufenthalt Aristeguis in Washington zeigte etwa ein Blick in den Auto-Rückspiegel, dass sie alle verfolgt wurden.
Die Regisseurin beleuchtet den Rand der Gesellschaft
Fanjul, geboren 1981 in Mexiko, heute in der Schweiz lebend, hat in ihren bisherigen Werken vor allem Existenzen am Rande der Gesellschaft beleuchtet. In ihrem Kurzfilm „If Still Alive“, mit dem sie beim Münchner Filmschoolfest 2011 zu Gast war, folgte sie dem Alltag der Bewohner eines kubanischen Altenheims, beobachtete selbst die Körperpflege, ließ das Sterben nicht aus.
In ihrem Langfilm-Debüt „Muchachas“ (2015) porträtierte sie drei mexikanische Hausmädchen; Frauen, die sonst im Schatten ihrer reichen Arbeitnehmer stehen. Mit Carmen Aristegui hat sie nun eine öffentliche Figur im Blick, die sich aber, was das Private angeht, nicht in die Karten schauen lässt. „Niemand sollte für seinen Job sterben“, stellt ein Mitarbeiter aus Aristeguis Redaktion fest und bekommt angesichts der Bedrohungen und Übergriffe, die sich häufen, Tränen in die Augen. Aristegui hingegen erscheint angstbefreit. Sie ist eine Heldin des investigativen Journalismus, die Juliana Fanjul schon als Teenager bewunderte. Fanjuls Dokumentarfilm wirkt nun genauso mutig wie seine Protagonistin, offenbart die Abgründe in Mexikos Politik, nimmt kein Blatt vor den Mund.
Bis zum 24. Mai zeigt das Dok.fest 121 Filme, die man nur online sehen kann. Das kostet pro Film 4,50 Euro – oder 5,50 Euro, wenn man den Solidaritätsaufschlag für die Partnerkinos City/Atelier, Rio und Maxim zahlt. Der Festivalpass für alle Filme kostet 50 Euro. Die meisten Filme sind die ganze Zeit verfügbar, einige unterliegen Beschränkungen.
Alle Infos unter dokfest-muenchen.de
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