„Sentimental Value“ von Joachim Trier - die AZ-Kritik
Im vergangenen Mai hat man vielleicht von dem Film schon mal gehört: Großer Preis der Jury beim Festival in Cannes für den Regisseur Joachim Trier. In gut fünf Wochen wird man sicher wieder viel von „Sentimental Value“ hören: Es ist der Moment, wenn am 17. Januar in Berlin die Europäischen Filmpreise vergeben werden: Schwindelnde acht Mal ist das sanfte, aber tiefe Drama nominiert - und auch für den Oscar im März als norwegischer Beitrag.
Jetzt kann man ihn im deutschen Kino sehen: einen Film über eine tiefe Schwesternbeziehung und problematische Tochter-Vater-Beziehung. Aber „Sentimental Value“ ist nicht der übliche, harte Depressionsfilm, sondern ein vielschichtiger Film, ohne Schuldzuweisungen, aber mit tiefen Charakterstudien - und den Lebensfragen, ob das Künstlersein einen von familiären Pflichten entbinden darf, ob Geschwister-Nähe die Geborgenheit geben kann, die ein abwesender Vater entzogen hat. Der Film spielt in einer alten Bürgervilla am Stadtrand von Oslo, und witzigerweise erzählt hier das alte Haus als Zeuge auch ein bisschen selbst mit.
Es beginnt am Beerdigungstag der Mutter, als der Vater - ein bekannter, egozentrischer Filmregisseur - wieder auftaucht und bei den erwachsenen Töchtern in den nachmittäglichen Trauer-Kaffee hineindrängt - und sofort wieder zu viel Raum beansprucht. Er will einen Film in seinem Familienhaus drehen und die ältere Tochter - eine Schauspielerin - einbinden, was eine Kettenreaktion an unaufgearbeiteten Emotionen auslöst.

Film im Film, Traumata und ihre Weitergabe, der Kampf um Anerkennung durch den Vater, Geschwister-Solidarität, die Frage, ob Familie Hölle oder Halt ist, die Unbedingtheit von Kunst: Das alles verwebt Joachim Trier zu einer oft witzigen Tragikomödie, die die doppelte Wahrheit beschreibt: Ja, wir sind vom Elternhaus geprägt, aber auch: Ja, wir haben eine Eigenverantwortung, unser Leben in den Griff zu bekommen. Und da ist der Film auch optimistisch.
Keine Klischees, viel Humor
Dass der Film hierbei kein einziges Klischee vorbringt, sondern jede Figur Überraschungen in sich haben darf, macht die gut zwei Stunden „Sentimental Values“ so belebend. Stellan Skarsgård spielt einen Patriarchen, den man bewundert, auch merkt, dass er Format hat, aber ihn in seinem - für ihn selbstverständlichen - Machtgehabe auch ein bisschen verabscheut.

Als die ältere Tochter sich weigert mitzuspielen, bringt er Ellen Fanning an: als Ersatz, narzisstische Stärkung eines alten Mannes - und Druckmittel gegen seine Tochter. Auch sie ist fantastisch besetzt: Renate Reinsve spielt sie im Zwiespalt aus dem Wunsch nach Versöhnung und Wut und Verletztheit. In jeder Szene erkennt man die nervöse, auch neurotische aber letztlich starke Frau und Künstlerin. Ein slapstickartiger Höhepunkt ist gleich zu Beginn ihr Premierenauftritt auf einer Theaterbühne zwischen Egozentrik, Hysterie, Black-Out, Sensibilität - und gefeierter Meisterschaft.
Ein Film, wie eine Familienaufstellung
Am Ende hat man ein bildschönes, oft auch komisches Drama gesehen, das wie eine wilde Familienaufstellung wirkt. Und die schöne, bürgerliche Holzhaus-Villa - mit dunklen Wandpaneelen und roten, verzierten Fensterrahmen, Verandasäulen und Giebeln - erzählt ruhig mit. Es zeigt Rückblenden und Szenen aus den alten Zimmern, die wie psychologisch in den Figuren aufsteigende Kindheitserinnerungen sind. Sie erklären so manches, warum jemand geworden ist, wie er ist.
K: City, Isabella, Leopold, Rio, ABC sowie Monopol (OmU), R: Joachim Trier (N, S, DK, D, F, 132 Min.)
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