Produzent Ingo Fliess aus München mit "Das Lehrerzimmer" auf Oscar-Kurs: "Wir kämpfen bis zum Schluss"
Seit vielen Jahren produzierte Ingo Fliess mit seiner Independent-Firma "if... Productions" anspruchsvolle Spiel- und Dokumentarfilme, meist mit nicht allzu großem Budget. Seit vergangenem Jahr ist er Professor für Produktion und Filmwirtschaft an der HFF München.
Mit "Das Lehrerzimmer" von Regisseur Ilker Çatak gewann er letztes Jahr den Deutschen Filmpreis, am Dienstag wurde das Drama für den Oscar nominiert. In der AZ sagt er, was für ihn bis zur Oscar-Verleihung am 10. März noch alles ansteht – und wie sich sein Berufsleben verändert hat.
AZ: Herr Fliess, herzlichen Glückwunsch! Wieviele Gratulationen sind seit Dienstag bei Ihnen eingegangen?
INGO FLIESS: Ein paar Hundert.
Haben Sie alle beantwortet?
Ja, ich bin weitgehend durch damit.
"Das Lehrerzimmer"-Produzent Ingo Fliess: "Versuchen, Aufmerksamkeit für den Film zu erzeugen"
Und ansonsten haben Sie in Schampus gebadet?
Schön wär's. Ich habe viel gearbeitet in den letzten Tagen. Ich habe an der HFF unterrichtet und wir von "if... Productions" bereiten gerade mit Ilker Çatak den neuen Spielfilm "Gelbe Briefe" vor. Wir drehen ab Mai. Wir haben die Produktionen für dieses Jahr so geplant, dass eine Oscar-Nominierung reinpasst. Es bestand ja die Möglichkeit, nominiert zu werden – und wenn man nominiert wird, muss man am 10. März zur Zeremonie fahren.
Was steht für Sie bis dahin noch an?
Dasselbe, was wir schon seit der Verkündung der Oscar-Shortlist gemacht haben: Wir versuchen, zusätzliche Aufmerksamkeit für den Film in all den Ländern zu erzeugen, in denen er noch nicht ins Kino kam. Gemeinsam mit den dortigen Lizenznehmern veranstalten wir Screenings der Filme mit Essen und Get-Together und laden dazu die nationale Filmbranche ein. So sollen möglichst viele nicht-amerikanische Mitglieder der Oscar-Academy den Film sehen, die ihn bisher noch nicht kennen. Direkt anschreiben darf man sie nicht, und man weiß auch gar nicht, wer alles Academy-Mitglied ist.

Wer kümmert sich in den USA darum, dass die Academy-Mitglieder den Film sehen?
Unser dortiger Verleih Sony Pictures Classic. Die Leute haben darin sehr viel Erfahrung. Unser genauer Fahrplan für die nächsten Wochen ruckelt sich gerade zurecht. Wir kriegen täglich neue Informationen aus den USA, bei welchen Screenings wir am besten dabei wären, in erster Linie Darstellerin Leonie Benesch und Ilker Çatak. Wir haben bei "if... Productions" in den vergangenen Monaten zusätzliches Personal für die Kommunikation angeheuert, und wir werden von einer internationalen Presseagentur unterstützt, um die europäischen Academy-Mitglieder zu erreichen. Dass wir nominiert sind, ist auch der intensiven Kommunikationsarbeit der letzten Wochen zu verdanken.
Wer zahlt das alles, und wer zahlt die Reisen zur Preisverleihung?
Meine Produktionsfirma, aber wir werden sehr gut von "German Films" unterstützt.
Einer von der Filmwirtschaft finanzierten Agentur, die den deutschen Film international promotet. Wer darf alles zur Preisverleihung mitfahren?
Wir wissen noch nicht, wie viele Plätze wir für das Dolby Theatre bekommen, aber groß wird unsere Delegation nicht sein. Die Details kennen wir noch nicht.
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Werden die Ihnen in einem Brief mit Goldrand unterbreitet?
Ich kann bisher nur sagen, wie wir erfahren haben, auf der Shortlist für den Oscar zu stehen. Da kam eine E-Mail der Academy – nicht an mich, sondern an meinen Kollegen. Und darin stand: "Herzlichen Glückwunsch zur Shortlist! Hier sind die wichtigsten Informationen..." Alles sehr prosaisch.
Bei der Verleihung werden Sie mit allen Größen der Filmwelt in einem Raum sein. Mit wem würden Sie gern sprechen?
Martin Scorsese. Aber was soll man da schon sagen? "Thank you for the music"? Es wäre auch toll gewesen, Robbie Robertson zu treffen, er ist für die beste Filmmusik nominiert. Aber er ist ja leider gestorben.
Wie schätzen Sie die Chancen ein, den Oscar zu gewinnen?
Es war nicht sehr wahrscheinlich, dass wir überhaupt nominiert wurden, mit einem Regisseur, der auf der internationalen Bildfläche noch nicht erschienen war – anders als alle Mitbewerberinnen und Mitbewerber. Insofern ist alles möglich. Aber realistisch gesehen ist "The Zone of Interest" klarer Favorit. Er ist in vier Hauptkategorien nominiert, auch als "Bester Film". Das ist ein schwerer Gegner – zumal es ein Nazi-Film ist. Aber wir kämpfen bis zum Schluss.
Haben viele Ihren Film unterschätzt?
Ja, einschließlich uns selbst. Als der Film fertig war, habe ich ihn vielen internationalen Festivals und Weltvertrieben angeboten. Wir haben überall zu hören bekommen, dass der Film kein internationales Potenzial hat. Das hat mich so deprimiert, dass ich ernsthaft darüber nachgedacht habe, die Filmbranche zu verlassen. Denn ich dachte: Einen besseren Film werde ich so schnell nicht machen können, und einen talentierteren Regisseur wüsste ich auch nicht aus dem Ärmel zu schütteln. Der Wendepunkte war die Berlinale. Da lief der Film im Panorama und nicht im Wettbewerb, und wir hatten eine solche Außenseiter-Position, dass es plötzlich cool war, "Das Lehrerzimmer" zu entdecken. Und das ist passiert. Er wurde in über 40 Länder verkauft, und in manchen Ländern hat er mit die höchsten Zuschauerzahlen, die ein deutscher Film jemals hatte, zum Beispiel in den Niederlanden oder in Griechenland.
Werden Sie in der Filmbranche seit dem Erfolg anders behandelt als zuvor?
Ja. Viele Leute suchen meine Nähe, die mich jahrelang ignoriert haben.
Wie bringen Sie den ganzen Oscar-Trubel mit ihrem Job als Produzent und HFF-Professor unter einen Hut?
Ich setze krass Prioritäten. An der Uni konzentriere ich mich voll auf die Arbeit mit den Studierenden, das nehme ich sehr ernst, und das Schöne ist, dass sie stark von meinen Erfahrungen profitieren. Ich hatte in den letzten zwölf Monaten eine extreme Lernkurve und gebe alles eins-zu-eins an die Studierenden weiter.
Ingo Fliess: "Durch 'Das Lehrerzimmer' haben sich Türen für internationale Partnerschaften geöffnet"
Ist der Erfolg zweischneidig, weil ihr Leben stressiger geworden ist?
Nein. Ich fand die Arbeit an vielen kleinen Filmen viel anstrengender. Jetzt haben wir etwas größere Budgets, drehen weniger Filme und machen dennoch mehr Umsatz. So fokussiert arbeiten zu können, ist weniger anstrengend als ständig viele Bälle in der Luft jonglieren zu müssen.
Sie haben den Regisseur Ilker Çatak ganz früh entdeckt. Wie kam's?
Ich war Dozent an der Hamburg Media School und er Student.
Wie merkt man da, dass ein Supertalent auf der anderen Seite sitzt?
Man merkt's nicht gleich, aber sofort klar war: Da sitzt einer, der weiß, was er will und das mit einer großen Demut und Höflichkeit vorantreibt. Und in seinen Kurzfilmen habe ich das Talent eines Regisseurs gesehen, der eine Weltkarriere machen kann.
Worum geht es in dem Film "Gelbe Briefe", den Sie gemeinsam ab Mai drehen?
Das ist eine Ehegeschichte, die in der Türkei spielt. Ein Ehepaar gerät unter Druck durch staatliche Willkür, und das Ehepaar reagiert auf die Zumutungen und den Jobverlust sehr unterschiedlich. Die Frage ist, was zuerst kommt: das Fressen oder die Moral? Der Clou ist: Wir drehen den Film mit einem türkischen Cast in Deutschland. Hamburg ist unser Istanbul, Berlin unser Ankara. Wir haben den Film ins Exil geschickt, weil es uns zu heikel ist, ihn in der Türkei zu drehen. Berlin und Hamburg sind aber als Städte erkennbar, und damit sagen wir: Diese Geschichte von staatlicher Willkür kann überall spielen. Durch den Verfremdungseffekt hat der Film eine zusätzliche Ebene.
Wie hat sich der Erfolg von "Das Lehrerzimmer" auf die Produktion dieses Nachfolgefilms ausgewirkt?
"Gelbe Briefe" ist eine deutsch-französisch-türkische Koproduktion. Durch "Das Lehrerzimmer" haben sich Türen für internationale Partnerschaften geöffnet. Das begann schon, als Sony Pictures Classics als Verleih für Nordamerika, Lateinamerika und Osteuropa eingestiegen ist. Da sind Leute auf uns aufmerksam geworden, die uns vorher nicht wahrgenommen hatten.
Wie stark wird nun der zusätzliche Effekt durch die Oscar-Nominierung sein?
Sehr stark. Das bestätigen die Leute, mit denen wir schon über Partnerschaften gesprochen haben, und es wird weitere anziehen.
Sie planen also in Zukunft vor allem internationale Koproduktionen?
Das ist ohnehin der Weg, den die deutsche Filmbranche gehen muss. Wegen der Kostensteigerung, dem Wettbewerb in den Förderungen und der Zurückhaltung in den Sendern kriegt man die Budgets für anspruchsvolle Filme nicht mehr allein in Deutschland zusammen.
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