"Poor Things" mit Emma Stone: Monsterhafter Voyeurismus

Ein Fall für den Löwen: Bei den Filmfestspielen in Venedig wird die Frankenstein-Story "Poor Things" mit Emma Stone gefeiert.
Adrian Prechtel
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Er macht die Rechnung ohne sie: Emma Stone and Mark Ruffalo in "Poor Things".
Er macht die Rechnung ohne sie: Emma Stone and Mark Ruffalo in "Poor Things". © Foto: Atsushi Nishijima/Searchlight Pictures/20th Century Studios

Witzigerweise hat in Italien Disney den Vertrieb des Filmes übernommen, ein Konzern, der als konservativ galt, aber anscheinend zunehmend alle Fesseln fallen lässt, die ihm der alte Walt über seinen Tod 1966 hinaus auferlegt hat. Liest man nach fast zweieinhalb Stunden Film im Abspann, dass die Hauptdarstellerin Emma Stone mitproduziert hat, dann wusste sie nicht nur, worauf sie sich beim erfolgreichen Exzentriker Yorgos Lanthimos einlässt, nein, es muss auch ein Herzensprojekt sein.

Das überrascht, denn man sieht sie in allen Varianten Sex haben, so dass man am Ende meint, einige Körperzonen von ihr gesehen zu haben, die man nicht einfach so herzeigt. "Poor Things" ist aber nicht deshalb der meistgefeierte Wettbewerbsfilm bisher. Er hat alle Qualitäten - wenn man mit einer gewissen Skurrilität von Setting und Story einverstanden ist.

"Poor Things" mit Emma Stone: Eine Frankensteingeschichte, bei der der Anatomieprofessor das Monster ist"

 

Es ist eine Frankensteingeschichte, nur dass der Anatomieprofessor selbst schon das Monster ist. Bereits sein Wissenschaftsvater hat an ihm experimentiert und ihn zu einem Kind der rationalen Aufklärung gemacht. Dieser Dr. Godwin Baxter ist Willam Dafoe, mit seinem kantigen Gesicht und den Narben der popularisierten Visualisierung Frankensteins Monster angenähert.

In seinem Haus hat er eine Kreatur: Bella Baxter, eine schwangere, hirntote Wasserleiche, der Dr. Baxter das Babygehirn implantiert. Er nimmt diese Bella wie seine eigene Tochter an: ein heranwachsendes Kind in einem erwachsenen Körper. Und das alles in einem surreal verzerrten London zur vorletzten Jahrhundertwende.

Filmfestspiele in Venedig: Riesiger Applaus für Emma Stone – und ein Löwe?

Bella wird sich auf einen klassische Abenteuer-Trip wie aus dem Bildungsroman begeben, Klassengegensätze erfahren, mit Sozialismus in Berührung kommen. Aber vor allem wird sie Sex und ihren Körper als wesentlichen Bestandteil weiblicher Selbstermächtigung kennenlernen. Unter anderem als Dirne in einem Pariser Bordell. Die Männer sind entweder schwanzgesteuert, durch Wissenschaftsliebe kastriert, irre, auch wenn Bella am Ende sich für den modernen Spießer entscheidet und selber Ärztin wird.

Riesiger Applaus, viel Gelächter und Staunen über dieses wilde, gewagte Unterhaltungskino mit Voyeur-Aspekten samt einem modernen Emanzipationsdiskurs und einer überragenden Emma Stone. Denn die wird von einer zuckenden Monsterpuppe zur selbstbestimmten Frau. Wenn das keinen Löwen nach sich zieht?

 

Ein schlimmes Beispiel: "Bastarden – The promised Land" mit Mads Mikkelsen

Der bislang überwiegend konservative Wettbewerb macht es Lanthimos ("Lobster", "The Favorite") auch leicht. Ein schlimmes Beispiel ist da der dänische "Bastarden – The promised Land" mit Mads Mikkelsen. Als deutscher Offizier des dänischen Königs im 18. Jahrhundert wünscht er sich zur Pensionierung unfruchtbares Land. Gegen alle Widerstände baut er die noch unbekannten Kartoffeln an. Doch der Preis ist zu hoch, alle Freunde sind am Ende tot. Deshalb gibt er trotz seines Erfolgs zermürbt auf.

Diese Kolonialisierungsgeschichte ist in abgenutzten Bildern erzählt, die Härte kann nicht über den Kitsch hinwegtönen. Dazu gibt es fast rassistische Aspekte: etwa dass ein Sinti- oder Roma-Mädchen nur unter ihresgleichen glücklich sein kann. Auch die deutschen Siedler ziehen ab, so dass ein merkwürdig ethnisches Reinheitsgebot auf dem Film zu liegen scheint. Grauenhaft.

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"Finalmente l'alba  – am Ende die Morgendämmerung": Alles spielt in einer einzigen Nacht

Da konnte man sich bei einem der vielen italienischen Beiträge wieder erholen, weil "Finalmente l'alba  – am Ende die Morgendämmerung" eine wunderbare Hommage an Fellinis "La dolce vita" ist. Saverio Costanzo zeigt die Vorgeschichte der legendären Filmstätte Cinecittà in Rom. Nach den Kriegstraumata ihrer Eltern gerät eine junge Frau als Komparsin in die Kulissen eines Monumentalfilms à la "Cleopatra".

Alles spielt in einer einzigen Nacht, in der sie den Stars nahekommt, erotischer Spielball von Intrigen wird, also ein Metoo-Opfer. Und als der neue Tag beginnt, weiß sie, wer sie ist, und hat quasi schlafwandelnd das Traumfabriksystem erlebt: mit Glamour in Edelrestaurants, Schauspieler-Neurosen, divenhaften Selbstzweifeln, homoerotischen Vertuschungen, Sadismen und Fassaden. Sehr schön, sehr brav - Bravo, aber ohne Enthusiasmus.

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