Oliver Stone: "Jeder ist sofort erpressbar!"
Er war ein loyaler Mitarbeiter verschiedener US-Geheimdienste, bis er im Dienst der National Security Agency (NSA) merkte, dass hier illegal die Rechte von Millionen von Menschen missachtet wurden. Und das abgehörte Handy von Bundeskanzlerin Angela Merkel war nur die Spitze des Eisberges. Edward Snowden setzte sich mit internen Daten, die die Ungeheuerlichkeit des Drohnenkrieges und der Massenausspähung belegten, ab und veröffentlichte sie. Heute sitzt er ohne Pass im Moskauer Exil. Oliver Stone hat über ihn einen packenden Spielfilm gedreht: „Snowden“.
AZ: Mr. Stone, ein konservativer Patriot, der seinem Land dienen will, wird zum kritischen Bürger, der gegen Missstände Widerstand leistet. Ist die Geschichte von Edward Snowden nicht auch Ihre Geschichte?
OLIVER STONE: Ja, es gibt Ähnlichkeiten, aber ich habe viel länger gebraucht, um kritisch zu werden.
Was war Ihr Wendepunkt?
Die 80er Jahre unter Ronald Reagan, als ich gemerkt habe, welche schmutzigen Kriege mit von uns unterstützten Todesschwadronen wir im Namen von Freiheit und Demokratie in Zentral- und Südamerika führten. Meine Antwort war: Genau hinschauen, sich nicht den Mund verbieten lassen und Filme machen!
Der deutsche Regisseur von „Die Brücke“, Bernhard Wicki, hat gesagt: Ein Film kann nicht die Welt verändern, aber eine Atmosphäre schaffen, in der sie sich verändert.
Genau das ist es! Die meisten Leute können sich nach kurzer Zeit nicht mehr genau an die Handlung erinnern, aber es bleibt ein Gefühl. Ein Beispiel ist mein Kennedy-Film „JFK“. Natürlich kennt keiner mehr nach all den Jahren alle Hintergründe des Attentats. Aber mein Film hat es geschafft, dass die Leute wacher und kritischer geworden sind.
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Was wünschen Sie sich, dass von „Snowden“ bleibt?
Das Wissen, wie es um unsere Privatsphäre steht und dass man sie verteidigen muss! Das eigentliche Problem aber ist, dass eine Regierung täglich mit einem riesen Stab an Mitarbeitern sich rechtfertigen und etwas dauernd wiederholen kann. Ein Film aber hat nur eine bestimmte Zeit eine gewisse atmosphärische Kraft.
Der erschreckende Verlust an Privatsphäre, den Sie zeigen, ist ja Realität. Warum regen sich viel zu wenig Menschen darüber auf?
Drei Gründe: Die Regierung vertuscht und verharmlost ununterbrochen, dass sie sich in alles und bei jedem von uns einhacken kann und das auch tut. Zweitens bewegen wir uns alle ständig in digitalen Welten. Da wollen wir nicht dauernd irritiert werden. Und dann drittens der Satz: Wer nichts zu verbergen hat, braucht sich auch nicht zu fürchten! Nur: Gegen jeden gibt es etwas. Habe ich etwa irgendwelche Vorlieben, die keinen etwas angehen? Stimmt jeder Beleg unserer Steuererklärung? Hatte ich nicht mal ein kritisches Date oder Hasch geraucht? Jeder ist erpressbar!
Was kann man tun?
Wenig, weil die Leute – von der Regierung und den Medien hysterisch gemacht – auf Freiheit zugunsten von Sicherheit verzichten, ganz extrem seit den Anschlägen von 9/11. Die Amerikaner haben damit einen Kernbestand ihrer Identität als Nation der Freiheit geopfert.
Ist das nicht vertretbar in Zeiten großer Bedrohung?
Aber die existiert so nur in unseren Hirnen. Überlegen Sie mal, wie gering die Wahrscheinlichkeit ist, durch einen Terrorakt getötet oder verletzt zu werden! Und dennoch ist unser Denken auf diese Gefahr fixiert. Das nutzen Politiker und Regierungen aus, um Sicherheit zu versprechen. Die Nazis haben den gleichen „Vertrag“ mit der deutschen Bevölkerung geschlossen: Wir schaffen Sicherheit und Ordnung, aber dafür lasst ihr uns freie Hand. Das ging dann vom Blockwart, der alles in der Nachbarschaft überwachte, bis zur Gestapo. Schauen Sie mal: Allein bei der NSA arbeiten 30 000 Leute. Und wie viele sind aufgewacht und haben gesagt: Das ist illegaler Wahnsinn, ich mach’ da nicht mehr mit? Ein Einziger: Edward Snowden! Die anderen haben sich in der Gruppe weggeduckt, hatten Angst um ihren Job oder haben gleich alles verdrängt.
Hochsicherheitsbunker der NSA, Hawaii: Ed Snowden (Joseph Gorden-Levitt) merkt, dass er hier mit gutem Gewissen nicht mehr weiterarbeiten kann.
Was wäre Ihr Vorschlag zur Sicherheit?
Das Bizarre ist, dass die gesamte Bevölkerung ins Visier genommen wurde. Aber man muss viel gezielter vorgehen: Wenn sich jemand verdächtig gemacht hat, darf man nah rangehen. So war das immer und war auch effizient. Aber man darf doch nicht die gesamte Bevölkerung unter Generalverdacht stellen nach dem Motto: Jeder, auch der nette Nachbar, könnte ein Täter sein. Das ist paranoid und vergiftet die Gesellschaft.
Glauben Sie noch an die Entscheidungsfreiheit der gewählten Regierungen?
Ich bin kein Zyniker. Das Problem ist eher, dass die meisten Politiker finanziell von Großspendern abhängig sind und damit unfrei ins Amt kommen. Und dann hat der militärisch-industrielle Komplex durch Lobbyarbeit und Leute, die die Regierung beraten, ein gewaltiges Eigeninteresse, dass das Militär und die Geheimdienste möglichst viel Macht und Geldressourcen bekommen. Aber letztlich könnte ein Präsident auch Dinge stoppen. Er müsste mit Militärs, Geheimdiensten, der Wall Street reden und die Bevölkerung auf seine Seite bringen. Dann geht das!
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Klingt utopisch!
Nein, schauen Sie, was Franklin D. Roosevelt erreicht hat. Er hat in den 1930er Jahren ein fast sozialistisches Wirtschaftsprogramm durchgesetzt, um die Wirtschaftskrise zu überwinden und zu verhindern, dass Teile der Bevölkerung in Armut leben. Oder nehmen Sie Kennedy, der entschlossen die Rassentrennung beendet hat.
Obama hat Sie enttäuscht?
Ja, was das Ausspionieren der Bevölkerung anbelangt! Und Hillary Clinton ist da nicht besser, im Gegenteil.
Was wird mittelfristig mit Ed Snowden passieren?
Ich habe keine Ahnung. Das Beste wäre, Obama würde ihn begnadigen.
Der Ex-CIA-Chef Michael Hayden sagt, Snowden wird in Moskau sterben müssen.
Aber Hayden ist ein Lügner. Darum darf man doch noch hoffen. Und jeder von uns kann Snowden helfen, indem man seinen Auftritten und Botschaften folgt und selbst seinen Mund aufmacht. Vielleicht kann ja mein Film zu jener Veränderung der Atmosphäre beitragen, von der anfangs die Rede war.
Kino: Astor Cinemalounge, Atelier, Royal, Leopold, Mathäser (auch OV), City (OmU) sowie Cinema und Museum (OV). R: Oliver Stone (USA/D, 110 Min.)