"Ohne Halt ist man verloren"

Er wurde in Guantánamo misshandelt und gefoltert und weigerte sich dennoch zu gestehen, was er nicht getan hatte. Der Film „5 Jahre Leben“ rollt die Geschichte von Murat Kurnaz wieder auf
Martin Schwickert |
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Er wurde in Guantánamo misshandelt und gefoltert und weigerte sich zu gestehen, was er nicht getan hatte. Der Film „5 Jahre Leben“ rollt die Geschichte von Murat Kurnaz wieder auf

Lange 1725 Tage verbrachte Murat Kurnaz zunächst im afghanischen Kandahar und später im US-Internierungslager Guantánamo in Gefangenschaft. Im Herbst 2001, nur wenige Wochen nach den Anschlägen vom 11. September, war der Deutsch-Türke nach Pakistan gereist, wo er eine Koranschule besuchen wollte. Auf dem Rückweg zum Flughafen wurde er von der pakistanischen Polizei verhaftet und als Terrorist per Kopfgeld an den US-Geheimdienst verkauft. Stefan Schallers „5 Jahre Leben“ erzählt die Geschehnisse jetzt konsequent aus der Innenperspektive des Gefangenen.

AZ: Herr Kurnaz, wie stark waren Sie an der Entwicklung dieses Filmes, der sich mit Ihrer Haftzeit in Guantánamo auseinandersetzt, beteiligt?

MURAT KURNAZ: Ich habe mich mehrmals mit Regisseur Stefan Schaller getroffen. Er hatte mein Buch gelesen und auch einige TV-Dokumentationen gesehen. Darüber hinaus habe ich den Filmemachern bewusst freie Hand gelassen. Ich wollte nichts beeinflussen und war auch deshalb nicht bei den Dreharbeiten dabei.

Mit welchem Gefühl haben Sie den Film zum ersten Mal angeschaut?

Man ist natürlich gespannt darauf, wie die eigene Person und die eigenen Erlebnisse auf der Leinwand dargestellt werden. Aber mir ist klar, dass dies ein Spielfilm ist, wo einiges nicht genau so gezeigt wird, wie es war.

Der Film nimmt zum Beispiel die Folterszenen, die Sie in Ihrem Buch sehr eindringlich beschreiben, gezielt zurück…

Der Film verharmlost die Ereignisse. Die Faustschläge und Tritte, die gezeigt werden, würde in Guantánamo niemand als Folter bezeichnen. Wenn man in Guantánamo über Folter spricht, dann meint man Elektroschocks, Waterboarding und solche Sachen. Aber je mehr ich über den Film rede, merke ich, dass die Gewaltszenen für die Zuschauer schon sehr nah an der Grenze des Erträglichen sind.

Wie war es für Sie, noch einmal in die Erinnerung an diese grausamen Erlebnisse hineinzugehen?

Ich bin mit meiner Geschichte ja schon mehrmals an die Öffentlichkeit gegangen. Was ich in diesen fünf Jahren in Kandahar und Guantánamo am eigenen Körper erlebt habe – das war sehr schwer. Darüber zu erzählen ist im Vergleich dazu ganz einfach. Und ich spreche auch gern darüber, weil es Guantánamo heute immer noch gibt und darüber hinaus auf der Welt mehr als 21 Geheimgefängnisse existieren, in denen gefoltert wird. Ich arbeite eng mit Menschenrechtsorganisationen zusammen und ich hoffe, dass auch mit diesem Film mehr Menschen realisieren, dass heute weiterhin gefoltert wird.

Wenn man Ihr Buch liest und sich diesen Film anschaut, fragt man sich unwillkürlich: Wie konnten Sie diese Tortur über so lange Zeit überhaupt aushalten?

Die Kraft kam nicht aus mir selbst. Ich habe zu Gott gebetet und ich bin Gott sehr dankbar, dass er mir diese Kraft gegeben hat. Ich selbst habe versucht, mich körperlich fit zu halten. Habe trainiert, so gut es ging. Ich habe ja seit meinem achten Lebensjahr Kampfsport betrieben. Aber die psychische Kraft, das zu überstehen, konnte mir nur Gott geben. In so einer Situation ist man verloren, wenn man keinen Halt hat, und der Glaube spielt da eine sehr wichtige Rolle.

Haben Sie überlegt, nachdem die deutsche Regierung Sie derart im Stich gelassen hat, sich in einem anderen Land niederzulassen?

Ich bin Bremer. Ich bin dort aufgewachsen. Meine ganze Familie lebt in Deutschland. Wo hätte ich hingehen sollen? Ich kenne die Türkei, wie viele Deutsche auch, nur aus dem Urlaub. Für mich kam kein anderes Land in Frage.

Wie hat Guantánamo Ihren Alltag verändert?

Die Medien haben nach meiner Entlassung einiges kaputt gemacht. Es war für mich sehr schwer, wieder ins Berufsleben zurückzukehren. Für alle war ich der potenzielle Terrorist, denn die Politiker haben ja behauptet, dass sie mich nicht aus Guantánamo rausgeholt hätten, weil ich zu gefährlich sei. Das hat dazu geführt, dass die Leute auf Abstand gingen. Das ist heute noch so. Das geht so weit, dass kriminelle Organisationen mich als Geldeintreiber anwerben wollen. Das ist echt krank.

Lesen Sie hier die Kritik zum Kinofilm "5 Jahre Leben"

 

 

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