Kritik

Momo im Social-Media-Zeitalter

Michael Endes Klassiker kehrt zurück in die Kinos - und erinnert uns an die Macht kleiner Schritte
Marie-Kristin Biener |
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Alexa Goodall als Momo mit Schildkröte Kassiopeia.
Foto: Constantin Film/dpa 4 Alexa Goodall als Momo mit Schildkröte Kassiopeia.
Die grauen Herren haben nun weiblichen Zuwachs bekommen.
Foto: Constantin Film/dpa 4 Die grauen Herren haben nun weiblichen Zuwachs bekommen.
Momo vor dem Amphitheater.
Foto: Constantin Film/dpa 4 Momo vor dem Amphitheater.
Meister Hora (Martin Freeman).
Foto: Constantin Film/dpa 4 Meister Hora (Martin Freeman).
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Wie sollen wir das jemals wieder sauber bekommen?“, fragt Momo (Alexa Goodall), nachdem die Kinder im Amphitheater eine ausgelassene Party gefeiert haben.

Beppo Straßenkehrer sitzt neben ihr, schüttet ein paar Popcornstücke auf die Stufe und legt sie, langsam und bedächtig, wieder zurück in die Tüte. Stück für Stück, Atemzug für Atemzug erklärt er: Man kann eine lange Straße nur bewältigen, wenn man an den nächsten Schritt denkt - und nicht an das Ganze.

Es ist eine der bekanntesten Passagen aus Michael Endes Roman von 1973 und in der nun anlaufenden Neuverfilmung gehört diese Szene zu den Momenten, die berühren und zum Nachdenken anregen. Der Film zeigt hier, wie aktuell Endes Gedanken über Entschleunigung gerade heute sind.

In der Warteschleife der Zeitsparbank

Die Handlung ist vertraut: Momo lebt in den Ruinen eines Amphitheaters und schenkt ihren Mitmenschen Aufmerksamkeit. Doch als graue Herren - diesmal ergänzt durch graue Damen - den Menschen ihre Zeit stehlen, verändert sich alles. Selbst Momos bester Freund Gino (Araloyin Oshunremi) - im Original „Gigi“ - hat keine Zeit mehr für sie. Mit Hilfe der geheimnisvollen Schildkröte Kassiopeia gelangt Momo zu Meister Hora (Martin Freeman), dem Hüter der Zeit, und nimmt den Kampf gegen die Diebe auf.

Die grauen Herren haben nun weiblichen Zuwachs bekommen.
Die grauen Herren haben nun weiblichen Zuwachs bekommen. © Foto: Constantin Film/dpa

Regisseur Christian Ditter, der auch das Drehbuch schrieb, verlegt die Geschichte in die Gegenwart. Aus der Puppe Bibigirl, die dazu dienen soll, Momo zu bestechen, ist ein „Bibi-Bot“ - eine fliegende Drone - geworden. Die Zigarren der grauen Herren sind futuristischen Inhalatoren mit pinker Flüssigkeit gewichen. Zeit wird über Armbänder abgesaugt und auf digitale Konten gebucht - wer abbuchen will, landet in einer Hotline-Warteschleife der „Zeitsparbank“.

Gino wird bekannter Influencer, was in einer Welt, in der Aufmerksamkeit zur Währung geworden ist, schlüssig wirkt. Auch sprachlich schwingt das Heute mit: Figuren sagen „weird“ oder „busy“. Kassiopeia, die Schildkröte, wird zum comic relief, wenn lustige Einzeiler auf ihrem Panzer aufleuchten.

Momo vor dem Amphitheater.
Momo vor dem Amphitheater. © Foto: Constantin Film/dpa

Technisch ist der Film solide. Wenn graue Herren und Damen besiegt werden, zerfallen sie zu pinkem, pixeligen Staub - dieselbe Farbe wie die gestohlene Zeitflüssigkeit - und knüpft an die Technologiekritik der Geschichte an. Die Effekte sind gut gesetzt, aber nie übertrieben.

Auch die Besetzung trägt viel zur Wirkung bei. Alexa Goodall verleiht Momo eine Mischung aus Verletzlichkeit und Stärke, dem braunen Wuschelkopf von Radost Bokel ist eine rote Lockenmähne gewichen. Araloyin Oshunremi spielt Gino mit jugendlichem Charme und Energie, Martin Freeman gibt dem geheimnisvollen Meister Hora eine ruhige Autorität.

Auch wenn viele Nebenfiguren aus der Vorlage gestrichen wurden, überzeugt das Ensemble durch Spielfreude und eine Ernsthaftigkeit, die dem Stoff gerecht wird.

Eine wichtige Rolle spielt, gerade zu Beginn des Films, der Erzähler. Er ist vor allem zu Beginn präsent, führt durch die stillstehende Zeit in der Eröffnungsszene und hält die Fäden zusammen, bis Momo zum ersten Mal dem Meister Hora begegnet.

Meister Hora (Martin Freeman).
Meister Hora (Martin Freeman). © Foto: Constantin Film/dpa

Damit rafft der Film die Handlung erheblich, springt über Nebenepisoden hinweg und erklärt, wo Michael Ende die Lesenden rätseln ließ. Auf diese Weise wirkt der Einstieg straff, fast schon atemlos. Was im Buch und der Verfilmung von 1986 durch Atmosphäre und Beobachtung entsteht, wird hier durch schnelle Worte ersetzt.

Am Ende ist auch die Neuverfilmung ist ein wenig hektisch 

Manche Fragen werden nun beantwortet - etwa wie genau die Zeit geraubt wird. Andere bleiben offen: Wer ist Momo eigentlich, woher kommt sie, warum darf sie ein Jahr bei Meister Hora schlafen? Diese Mischung aus Erklärung und Rätsel wirkt halbherzig.

Michael Ende hatte genau hier eine Stärke: Er ließ Unklarheiten bewusst stehen, weil es nicht auf logische Antworten, sondern auf die Botschaft ankam. So entsteht ein ambivalenter Eindruck: „Momo“ modernisiert die Geschichte mit cleveren Ideen und ist visuell überzeugend. Gleichzeitig verliert die Neuverfilmung jene poetische Ruhe, die den Roman so besonders macht.

Wo Beppo vom Wert der kleinen Schritte erzählt, verfällt der Film selbst oft ins Eiltempo. Am Ende ist „Momo“ im Kino eine solide Aktualisierung - doch die Zeit, die man sich beim Erzählen nehmen müsste, nimmt er sich nicht.

R: Christian Ditter (D, 90 Min.); Kinos: Gloria, Leopold, Mathäser, Royal

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