Kritik

"Mittagsstunde" im Kino: Untergegangene Heimat

Die gelungene Kino-Verfilmung von Dörte Hansens Bestseller "Mittagsstunde".
Margret Köhler |
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Charly Hübner als Ingwer.
Charly Hübner als Ingwer. © picture alliance/dpa/Majestic Filmverleih

Gibt es sie noch, die gute alte Zeit mit Tante-Emma-Läden und Dorfschwatz? Orte, wo Menschen wissen, wo sie hingehören, sich gegenseitig helfen und eine verschworene Gemeinschaft bilden? In Großstädten vermutet man diesen Hort der Glückseligkeit auf dem Land, in den Dörfern fernab von Hektik, Berufsstress und Ellenbogengesellschaft.

Dass dieses scheinbare Paradies längst perdu ist, muss der Kieler Uni-Dozent Ingwer Feddersen hautnah erfahren. Der von der Midlife-Crisis geschüttelte 47-Jährige nimmt sich eine Auszeit und kehrt in sein Heimatdorf Brinkebüll in Nordfriesland zurück. Die Freude des alten Ehepaares, das bald seinen 70. Hochzeitstag feiert und das er "Mudder" und "Vadder" nennt, hält sich in Grenzen, sie verzeihen dem verlorenen Sohn nicht, dass er einst wegging, um zu studieren, statt den Gasthof der Familie zu übernehmen.

Statt Schnack beim Bäcker: Schlangen beim Discounter

Und jetzt ist es zu spät, die Mutter versinkt langsam in Demenz, der Vater hält stur hinterm Tresen im "Dorfkrug" trotz gähnender Leere die Stellung. Und Ingwer findet sich in einer fremden, nicht der erhofften heilen Welt wieder. Lars Jessen, der schon mit "Dorfpunks" und "Hochzeitspolka" sein Gespür für Heimatfilme bewies, entwirft das nüchterne Bild einer nordfriesischen Landschaft im Niedergang und spannt den Bogen von den 1960er Jahren bis in die Gegenwart.

Heute auf der Straße kaum Menschen, die Kastanien auf dem Dorfplatz sind verschwunden, eine Monokultur aus Mais erstreckt sich nach der Flurbereinigung bis zum Horizont, begradigte Schnellstraßen führen ins Nirgendwo, keine spielenden Kinder mehr, die Dorfschule ist geschlossen. Statt Schnack beim Bäcker: Schlangen beim Discounter.

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Hauptfigur: Ein Held mit Zurückhaltung

Nach dem Bestseller von Dörte Hansen erzählt Jessen von einer sterbenden Dorfkultur und stellt Fragen nach der Gesellschaft der Zukunft, nach dem Platz im Leben, nach dem Zuhause und dem Verlust von Heimat. Um die Identität des Romans zu bewahren, werden die Sprünge zwischen den Zeitebenen und den einzelnen Erzählsträngen trotz starker Straffung beibehalten.

Charly Hübner als Hauptfigur verkörpert den Helden mit Zurückhaltung und einer zu Herzen gehenden Melancholie und Schweigsamkeit. Und wenn er redet, dann auch in herrlichem Plattdeutsch. In assoziativer Erzählweise erfahren wir viel von brodelnden Emotionen unter der Oberfläche, von dunklen Familiengeheimnissen und Lügen, die das Leid fernhalten und eine falsche Wirklichkeit vermitteln sollen.

Ein "Kuddelmuddel", in dem Ingwer viel über seine Herkunft erfährt und zweifelt, ob er wirklich in die alte Knochenmühle nach Kiel zurückkehren soll. Pläne zersplittern, Hoffnungen zerplatzen. Und die alte Musicbox spielt dazu.


Kinos: ABC, City-Atelier, Rio R: Lars Jessen (D, 93 Minuten)

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