Mit Selfiestick im KZ

Massentourismus im ehemaligen Konzentrationslager: Der Dokumentarfilm "Austerlitz" klagt wortlos an - am Ende bleibt aber nur moralisierende Langeweile.
Maximilian Haase |
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Schön ist das nicht: Ein Selfie vor dem KZ-Schriftzug gilt "Austerlitz" als Inbegriff der Respektlosigkeit.
deja-vu film Schön ist das nicht: Ein Selfie vor dem KZ-Schriftzug gilt "Austerlitz" als Inbegriff der Respektlosigkeit.
"Cool Story, Bro", steht auf dem Shirt des jungen Mannes, der über das KZ-Gelände schlendert. In lässigen Alltagsklamotten erkundet er wie jährlich Hunderttausende Besucher die Gedenkstätten der ehemaligen Konzentrationslager in Dachau
und Sachsenhausen. Lachend, essend. Dort wo die Deutschen während des Holocaust Millionen Juden
, Sinti und Roma, Homosexuelle, Kommunisten und sonstige missliebige Menschen ermordeten, hat eine touristische Erinnerungskultur Einzug gehalten. In seinem Film "Austerlitz" dokumentiert der ukrainische Regisseur Sergei Loznitsa den Massenbesucher-Alltag an den Orten des Schreckens. In schwarz-weißen Bildern, ohne Kommentar. Vor allem aber trotz aller künstlerischer Subtilität derart oberflächlich moralisierend, dass die Dringlichkeit des Nichtvergessens zur bloßen Belehrung gerät. Selbstredend: Es entspricht nicht der feinen Art, als Familie mit Selfiestick vor dem KZ-Tor mit der Aufschrift "Arbeit macht frei" für ein Foto zu posieren. Ebenso fragwürdig scheinen Selfies vor Verbrennungsöfen, Genickschussanlagen und Foltertischen. Und natürlich wünscht man sich keine sonnenbebrillten Schulklassen, die feixend durch die Krematorien eines ehemaligen Vernichtungslagers ziehen. All das zeigt der Dokumentarfilm "Austerlitz", inspiriert von dem gleichnamigen Buch des deutschen Schriftstellers Winfried Georg Sebald von 2001. Gefilmt mit versteckten Kameras, beobachtet das 2016 mit dem Hauptpreis des DOK Leipzig ausgezeichnete Werk, wie sich Touristen im Sommer Konzentrationslager
als Attraktion ansehen. Dass sich die Massen dabei verhalten, als besuchten sie den Eiffelturm oder das Colosseum, scheint die einzige - und überaus banale - Feststellung des Films. Anderthalb Stunden lang richtet Loznitsa die Kamera in unendlich lang(weilig)en Szenen auf Menschen, die sich augenscheinlich der Aura des Ortes unangemessen verhalten. Sie plappern, knipsen, lungern herum. Abgesehen von eingefangenen Wortfetzen und Monologen einiger Touristenguides bleibt das auch bildästhetisch nur mäßig spannende Werk kommentarlos. Dass sich der Zuschauer jedoch lediglich in eine interessierte Beobachterrolle begeben soll, nimmt man Loznitsa nicht ab: Zu eindeutig setzt er Schnitte nach besonders widersprüchlichen Szenen, zu anklagend fängt die Kamera besonders Verfängliches ein. In einem Interview bestätigte der Regisseur diesen Eindruck: KZs seien zu Disneylands geraten, führte er aus, die Besucher dächten nicht über den Ort nach, benähmen sich respektlos. In diesem moralisierenden Urteil, das sich in den Bildern spiegelt, liegt das größte Problem des Films. Denn die eigentlich ja interessante Frage - Warum begeben sich Touristen
freiwillig in die KZ-Stätte statt an den Strand? - benutzt Loznitsa lediglich zur banalen Belehrung. Statt den nun einmal meist herdengetriebenen und geschmacklosen Massentouris zumindest ein Fünkchen historisches Interesse und Empathie für die Ermordeten zuzugestehen - sie kommen ja schließlich in Massen! -, erschöpft sich "Austerlitz" in schnöder und in der Tat grundermüdender Kritik am postmodernen Umgang mit Gedenken. Nein, sollte man entgegnen, eine Kleidungsordnung braucht es in Dachau nicht, nein, man muss nicht mit gesenktem Blick durch das KZ Sachsenhausen streifen und ja, die historisch exakte Nachbildung von Baracken und Genickschussanlagen kann durchaus zur Aufklärung beitragen. Selbst mit Turnschuhen und Selfiestick.
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