"Meine Stunden mit Leo" im Kino: Modern für gewisse Zeiten
Wisch und Weg wie bei Tinder ist nichts für die pensionierte Religionslehrerin Nancy Stokes. Sie macht es lieber auf die altmodische Tour, lässt sich einen Callboy kommen. Da sitzt sie nun nervös im Londoner Hotelzimmer und wartet auf Leo Grande, ein vielversprechender Künstlername.
Und als die Tür aufgeht, steht da ein attraktiver Kerl mit einem sympathischen Lächeln, das jegliche Verlegenheit und Verklemmtheit hinwegfegen sollte. Aber so leicht geht das bei der Witwe nicht, die offen gesteht: "Ich hatte noch nie einen Orgasmus". In über 30 Jahren frustrierter Ehe das immer gleiche Ritual. Ihr Mann sprang auf sie, erledigte den Job und schlief anschließend ein.
Nach einem erotischen Tänzchen wirft Nancy alle Hemmungen über Bord
Ein schwieriger Fall, dem Leo aber mit einigen netten Komplimenten die Schwere nimmt, weiß er doch, was Frauen wünschen: Verständnis, Vertrauen, Verführung. Trotz seines Charmes braucht es Zeit, Nancy im Blümchen-Negligé aus der Reserve zu locken.
Das erste Treffen verläuft zwar relativ entspannt, beim zweiten präsentiert sie ganz pragmatisch eine "To Do"-Liste, auf der alles steht, was sie mal ausprobieren möchte. Sein Vorschlag "Willst du mit dem Blow Job anfangen" bringt sie natürlich erst einmal zum Erröten. Aber bei dem zärtlichen Profi wirft sie nach einem erotischen Tänzchen bald Hemmungen über Bord und erkundet neugierig die sexuelle Terra incognita.
Trotz aller Prüderie wird's nicht eine Sekunde platt
Ältere Frau und junger Escort, das hätte auch in Klischees abrutschen können. Aber nicht bei der australischen Regisseurin Sophie Hyde, die mit wenigen Mitteln ein witzig ernstes Kammerspiel inszeniert über das Verlangen und die Angst vor der Körperlichkeit sowie die aufkeimende Lust am Körper. Trotz aller Prüderie wird's nicht eine Sekunde platt, wird niemand auch nur in einem Moment lächerlich gemacht.
Die beiden reden mehr über Sex, als dass sie ihn praktizieren. Und entgegen dem Geschäftsmodus verlassen zwei Fremde ihre Komfortzone, erzählt Nancy von ihrem angespannten Verhältnis zu Sohn und Tochter, berichtet Leo von der zerstörten Bindung zur Mutter, von der familiären Ausgrenzung. Fast fürchtet man zu viel Harmonie, doch dann recherchiert die Pädagogin von Neugier getrieben über sein Privatleben und überschreitet damit eine ungeschriebene Grenze.
Emma Thompson und Daryl McCormack bei einem Riesenspaß in geschliffenen Dialogen
Der ungewöhnliche Pas de Deux funktioniert, weil hier zwei Schauspieler sich trotz unterschiedlichem Alter und Erfahrung auf Augenhöhe begegnen und sich mit Riesenspaß in geschliffenen Dialogen messen.
Oscar-Preisträgerin Emma Thompson, die ihre Spielleidenschaft zwischen Schüchternheit und Leidenschaft als großartige Komödiantin austobt, und der erst 29-jährigen Daryl McCormack treffen sich in brennender Ehrlichkeit, unromantischer Intimität und bewegender Verletzbarkeit. Der irische Nachwuchsstar laviert souverän zwischen routiniertem Sexarbeiter ("Ich bin der, den du haben willst"), leisem Selbstzweifler und sensiblem Frauenversteher. "Ein Mann für gewisse Stunden" wie einst Richard Gere, nur moderner und lässiger.
Der Ratschlag ist klar: "Akzeptieren Sie sich, wie Sie sind, bewerten Sie sich nicht"
Die Überwindung von Scham, die Akzeptanz des eigenen Körpers, den Mut, sich seinem Alter zu stellen, Kampf gegen frauenfeindliche Konventionen - selten wurden diese Themen so intensiv und mit so viel Humor verhandelt.
In der letzten Szene steht Emma Thompson völlig nackt, verloren aber selbstbewusst vor dem Spiegel - eine Szene, die ihr nicht leicht fiel. Und sie gibt allen Frauen, die bedauern, dass sie nicht perfekt genug sind, den Rat "Ziehen Sie sich einfach mal aus und stellen Sie sich vor einen Spiegel. Bewegen Sie sich nicht. Akzeptieren Sie sich, wie Sie sind, bewerten Sie sich nicht".
Kino: ABC, solln, und Maxim, City, Rio (auch OmU) sowie Arena (OmU) und Museum (OV), R: Sophie Hyde (GB, 97 Min.)
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