Leonardo DiCaprio und Sean Penn als Gegenspieler in "One Battle after Another"

"Wie spät ist es?" Das ist die harmlose, vorgeschobene Frage, um einen geheimen Code abzufragen. Was aber, wenn man die letzten 30 Jahre hauptsächlich mit Kiffen und Trinken beschäftigt war. Dann kann, ja, dann muss es im Gehirn Aussetzer geben. Dann fällt einem auch keine Antwort mehr ein – selbst wenn ein Leben davon abhängt.
Zwischen Hysterie, Lethargie und Ekstase
Diese Szene – sie gehört zu den irrsten des Kinojahres – ist komisch wie schmerzhaft. Bob (Leonardo DiCaprio) hat es endlich geschafft sein Handy aufzuladen, ist aber noch auf der Flucht, kauert mit einem Bademantel am Boden, in einem Zustand irgendwo zwischen Hysterie, Lethargie und Ekstase. Am Ende der Leitung ist ein Mittelsmann des einstigen Revolutionärs der Gruppe "French 75". Um seine Tochter Willa zu treffen, muss Bob wissen, wo seine einstigen Weggefährten sie versteckt halten. Doch ohne Codewort keine Antwort. Und die Zeit, die tickt. Ausgerechnet bei der Frage nach der Zeit.
Die Panik, die Wut und die Verzweiflung über seine eigene Unfähigkeit zu denken, spielt DiCaprio mit einer Intensität, die elektrisiert. Und es ist genau dieses Gefühlschaos, das einhergeht mit einem Tonfall zwischen ernst und albern, dramatisch und schrill, dass "One Battle after Another" so besonders, so einzigartig macht.

Bereits der Einstieg: ein Knalleffekt. Mittendrin sind wir bei den früheren Aktionen der Gruppe "French 75". Ein Internierungslager für Flüchtlinge an der mexikanischen Grenze überfallen die manische Anführerin Perfidia (Teyana Taylor) und ihre Anarcho-Gang. Für Freiheit und gegen Abtreibung macht sich die kleine Gruppe - vor allem selbstbewusster schwarzer jungen Frauen - stark. Neu dabei ist ein Weißer: der Sprengstoffexperte Bob. Für Ablenkung soll er sorgen. Nicht nur bei der Befreiung der Kasernierten, sondern auch später, beim Anschlag auf Stromnetze, auf Banken. Die Guerilla-Aktionen sind anfangs erfolgreich, Perfidia und Bob bald ein Paar. Die Obrigkeit aber, die Armee, in einem diffusen US-Polizeistaat der Zukunft, sie kommt den Partisanen immer näher.
Vor allem Colonel Lockjaw (eine Schau, immer am Rand zur Karikatur: Sean Penn) hat es auf sie abgesehen. Im doppelten Sinne. Denn der sich im Stakkato-Robocop-Stil bewegende Redneck-Gockel im Muscle-Shirt ist auch angezogen von der Anführerin Perfidia. Sie werden sich treffen, in einer irren, pervers überhöhten Szene: zwei Menschen, die sich eigentlich verachten müssten, sich aber in ihrer animalischen Gier auch anziehen. Am Ende schlägt Fleischeslust jede Überzeugung, jedes Ideal.
Ein Kind ist das Ergebnis. Bob aber weiß nichts von der Untreue, zieht sich von der Radikalität der "French 75" zurück und sucht lieber nach seiner Vaterrolle. Als ein Banküberfall schief läuft, verpfeift Perfidia selbstsüchtig ihre Gruppe. Immerhin, Bob kann mit dem Baby, ihrem Baby, fliehen.
16 Jahre später ist der Mann ein Wrack, die Tochter (eine Entdeckung: Chase Infiniti) aber stark, gefestigt, lässig. Eine Szene nur braucht Paul Thomas Anderson, dieser herausragende Regisseur ("Magnolia", "There Will Be Blood"), um ihr deformiertes Verhältnis zu skizzieren:

Willa ist es, die sich um ihren Vater, den paranoid blöd gekifften Ex-Revoluzzer, kümmern muss, während sie, noch nicht volljährig, schon die volle Verantwortung trägt. Die Vater-Tochter-Rolle, sie wird sich wieder verschieben, als der nimmermüde Lockjaw die beiden nach Jahren ausfindig macht.
Er selbst hat Perfidia längst verloren, die Sucht nach Anerkennung, sie bleibt dem Maniac aber. Einem geheimen Zirkel alter weißer Männer, faschistische Neo-Christen, möchte er angehören.
Prophetischer Film über die USA mit Zukunftshoffnung
Die Verweise auf beängstigende Entwicklungen im heutigen Amerika sind stets präsent, werden aber nie plump konkretisiert. Kleine Details, wie wenn eine friedliche Demo von eingeschleusten Scharfmachern radikalisiert wird, sind aussagekräftiger als jeder Moralappell.
Fantastisch gelingt auch eine Fluchtsequenz von Bob, der mithilfe von Willas stoischem Karatelehrer (Benicio Del Toro) den Militärs entkommen will.
Fast beiläufig zeigt Anderson eine Gegenwelt, wie ein kommunales Netzwerk von solidarischen Latinos funktioniert, Flüchtlings-Schutzräume wie selbstverständlich entstehen und genutzt werden. So ist dieser in seiner gewagt-genialen Überzeichnung auch an Quentin Tarantino erinnernde, verblüffende Genre-Mix, der lose auf dem Roman "Vineland" von Thomas Pynchon beruht, auch keine düster-verbitterte Abrechnung mit den heutigen USA, sondern eher ein Fingerzeig in Richtung Zukunft.
Anderson, selbst Familienvater, glaubt an eine junge Generation, die wie Willa das Rüstzeug und den Handlungsmut besitzt, die Fehler der Eltern nicht zu wiederholen und einen ganz eigenen Weg zu gehen. Auch wenn der erst einmal harten Widerstand bedeutet, von dem derzeit aber in den USA noch zu wenig zu sehen ist.
Kino: Astor im Arri, Cinemaxx, City, Leopold, Mathäser, Monopol sowie Cinema (OV) R: Paul Thomas Anderson (USA, 161 Min.)