Kritik: Nach dem Urteil
Schockierende Zahlen. Alle zweieinhalb Tage stirbt in Frankreich eine Frau an den Folgen häuslicher Gewalt. Trotzdem bleibt sie ein Tabuthema. Nachbarn, Freunde und Familienmitglieder schweigen, wollen sich nicht einmischen, nicht Partei ergreifen.
Xavier Legrand illustriert in seinem Spielfilmdebüt das Wesen dieser Gewalt, die männliche Dominanz in Beziehungen, Hiebe statt Liebe. Am Anfang steht eine fast dokumentarische Gerichtsverhandlung, bei der die Kontrahenten Miriam (Léa Drucker) und Antoine (Denis Ménochet) auf ihr Recht pochen, Juristen die psychologische und emotionale Aspekte vernachlässigen: schnelle und unsinnige Paragraphenschinderei in durchschnittlich 20-minütigen Anhörungen.
"Ich kann nicht beurteilen, wer von Ihnen beiden mehr lügt", sagt die Familienrichterin und spricht dem unberechenbaren und gewalttätigen Ex-Mann für seinen 11-jährigen Sohn regelmäßiges Besuchsrecht zu. Nach dem Urteil eskaliert die Situation sukzessive.
Bei den Großeltern taut der Junge auf
Wenn der Vater ihn abholt, sitzt der eingeschüchterte Junge wie ein Häufchen Elend im Auto, taut nur bei den Großeltern auf, die sich Freude, den Enkel zu sehen. Vaters Versuche, das Kind zu manipulieren und Einfluss auf die Mutter auszuüben, scheitern. Der Mann verweigert sich der Wirklichkeit, möchte, dass alles ist wie früher und steigert sich in Wut hinein.
Der französische Regisseur ließ sich nicht nur vom Klassiker "Kramer gegen Kramer" inspirieren, sondern im letzten Teil des Films, wenn Psychoterror und physische Gewalt jegliche Rationalität hinwegfegen, von "Shining".
Dabei malt er nicht in schwarz-weiß, spielt bewusst mit der Sympathie des Zuschauers für eine unsympathische Figur: ein unbeherrschter und auch hilfloser Loser, der nach Zuneigung und Anerkennung lechtzt - und sie nicht bekommt. Es tut weh, wenn er ein Geburtstagsgeschenk für seine Teenie-Tochter nicht persönlich überreichen darf, die Verwandtschaft und frühere Freunde ihn verachten.
Das Kind als Geisel der Eltern
Aber vor allem geht es um ein Kind, das die Eltern als Geisel nehmen, um ihre Position gegenüber dem einstigen Partner zu festigen.
Der junge Kinderschauspieler Thomas Gioria, der in seiner Verletzbarkeit und Traurigkeit für das Leid vieler Scheidungskinder steht, bestimmt die Tonalität des intensiven Dramas, über dem eine permanente Atmosphäre der Angst liegt und das zum Thriller wird. Das ist Sozialkino ohne Larmoyanz oder Mitleid, hart und realistisch. Dafür gab's verdient in Venedig den "Löwen" für die Beste Regie.
Kino: Maxim (auch OmU), Theatiner (OmU) B&R: Xavier Legrand (F, 93 Min.)
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