Hier feiern die Schönen, die Reichen und die Ratten
Venedig - Es gibt immer Gesichter, die ein Festival prägen. Clooneys hedonistisches Dauergrinsen hat das Festival am Lido über Jahre hinweg getragen. Aber der Italophile ist jetzt in Ehebanden, und in diesem Jahr überformt ein anderes Gesicht alles – das von Johnny Depp: mager, mit Stirnglatze, Schatten um eiskalte Augen. So schaut er uns in „Black Mass“ hinter getönten 80er-Jahre-Pilotensonnenbrillengläsern an. Er spielt James Bulger, einen Bostoner Gangster, der ab 1975 die Verbrechenswelt beherrschte. Und weil der Film von Scott Cooper einen fahl frösteln lässt, sieht es umso wunderbarer aus, wie schon ab frühem, hier sehr warmen Morgen kleine knall-bunte Sonnenschirmchen um den Roten Teppich liegen. Dort kauern aufgeregte Teenies und versuchen sich vor der sengenden Sonne zu schützen. Zwölf Stunden warten sie hier, bis er erscheint: Johnny Depp. Und es ist doch beruhigend zu sehen, dass er nicht so brutal vom Leben gezeichnet ist wie eben James Bulger. Johnny Depp trägt am Lido das Haar wieder strähnig lang, wenn auch mit hoher Stirn. Vor allem aber wirkt er eben doch lächelnd-warmherzig.
Zu gewinnen hat er hier in Venedig allerdings nichts außer einem großen Empfang, weil „Black Mass“ nicht im Wettbewerb läuft. Anders der französische Film „Marguerite“ mit Cathèrine Frot: Er ist so unfassbar rührend, dass Applaus schon in der Pressevorführung aufbrandet. Sie spielt eine reiche Frau, für die Musik alles ist und die so ihr Leben um die Lebens-Illusion baut, sie sei eine große Sopranistin. Am Ende ist man als Zuschauer auf der Seite der Fantasie anstatt der objektiven Wahrheit ihrer eigentlich fehlenden Musikalität. Xavier Giannoli hat diese Geschichte der exzentrischen Amerikanerin Florence Foster Jenkins entlehnt und nach Paris verlagert. Das Wochenende ist traditionell das Herzstück des Festivals. Kristen Stewart ist da, Stanley Tucci gekommen, Tilda Swinton wird erwartet, wie auch Ralph Fiennes.
Ihnen allen wird sicher nicht auffallen, dass nur wenige Meter vom Palazzo del Cinema seit sieben Jahren ein riesiges Loch im Boden klafft, die ewige Baugrube eines neuen Festivalzentrums, das nie gebaut wurde, weil das Geld ausging, man beim Graben schnell auf Asbest stieß und seitdem gestritten wird, wer die Bodensanierungsmaßnahmen übernimmt, damit man über dieses gescheiterte Projekt wenigstens wieder Gras wachsen lassen könnte.
Dafür bewegt sich an einem anderen wunden Punkt des Lido etwas. Hundert Jahre lang war das Grand Hotel Des Bains Inbegriff des Lido-Glamours. Ein internationales Hochstapler-Konsortium hatte es gekauft, Venedig eine Milliardeninvestition versprochen – und ging betrügerisch pleite. Interieur wurde versteigert, die Jugendstilsäle zum Teil ausgeplündert, es regnete durchs Dach. Wer hier noch unbemerkt feierte, stellte sich jetzt heraus: Ratten. Denn eine italienische Unternehmergruppe hat gerade begonnen, die Substanz vor weiterem Verfall zu sichern – und verspricht eine Auferstehung von altem Hotelglanz. Jetzt betraten also statt Kammerdienern erst einmal Kammerjäger das feucht-ruinöse Gemäuer.
Was dann geschah, wäre eine fantastische Filmszene gewesen. Hunderte riesiger Ratten entkamen der Jagd und entwichen Richtung Strand und flohen unter die edlen Zeltstrandhütten. Diese mieten wohlhabende Venezianer für ihr sommerliches Strandleben für bis zu 5 000 Euro pro Saison. Jetzt haben sich tierische Untermieter eingenistet, was die repräsentative Lage empfindlich stört. Aber was sind das für Probleme verglichen mit der Chance, dass der Lido wieder aus seinem kleinstädtischen Dornröschenschlaf erwachen könnte, der nur zur Festivalzeit mit schicken weißen Pavillons, Fahnen und Kinoplakatwänden mondän überblendet wird – einer Art kurzzeitiger Schönheitsoperation.
Wenn heute Oscar-Preisträger Eddie Redmayne auftaucht, der für seine Darstellung des Physikers Stephen Hawkins bekannt wurde, dann geht es mit „The Danish Girl“ im Löwen-Wettbewerb um mehr als eine kosmetische OP. Es ist die Geschichte des ersten Mannes, der sich einer Geschlechtsumwandlung unterzog, im Jahr 1930. Das Gesicht von Redmayne lächelt am Lido schon liebenswürdig von vielen Plakatwänden. Und welches ist das klassisch weibliche Gesicht des Festivals? An diesem Wochenende das von Juliette Binoche, die ebenfalls für einen Wettbewerbsfilm angereist ist: „L’Attesa“. Vielleicht werden am Sonntag nicht so viele Teenies auf sie am Roten Teppich warten wie auf Johnny Depp. Aber sie adelt dieses älteste Filmfestival der Welt bei allem US-Starrummel wunderbar europäisch.