Heißer Brennpunkt Kino
Die Doclisboa '13 zeigt hochpolitische Filme – und die schönen Details des Lebens
Das Politische im Kino, es liegt allein schon darin, was zu sehen und was nicht zu sehen ist, was gezeigt wird und was aus dem Bild und Rahmen fällt. Die Frage der Präsenz stellte sich heuer beim Internationalen Dokumentarfilmfestival in Lissabon, kurz Doclisboa '13, auch jenseits der Leinwand: Als Jury-Präsident war der iranische Regisseur Mohammad Rasoulof eingeladen, der jedoch sein Land wegen seiner regimekritischen Filme nicht verlassen darf und folglich nicht anreisen konnte. Seine Benennung war also allein schon eine politische Entscheidung. Rasoulof galt dennoch die zehn Festivaltage lang als Vorsitzender der fünfköpfigen Jury und wurde bei der abschließenden Preiszeremonie gefeiert, ein abwesender Held des freidenkenden Kinos.
Zum elften Mal wurde die Doclisboa in Portugals Hauptstadt ausgerichtet, geleitet wird es von gleich drei Direktorinnen, Cinta Pelejà, Cíntia Gil, Susana de Sousa Dias. Das Team ist jung, enthuasistisch, filmliebend. Über 200 Filme aus aller Welt waren eingeladen, mehrere Wettbewerbe ließen die Regisseure auf Preise hoffen. Eine Retrospektive widmete sich dem französischen Regisseur Alain Cavalier, der für den ganzen Zeitraum angereist war. Dazu diverse Workshops sowie Filminstallationen in Museen, Rainer Werner Fassbinders 14-teilige Serie „Berlin Alexanderplatz“ zum Beispiel im Museu da Electricidade, gleichzeitig gezeigt auf mehreren Bildschirmen, was die Bilder aus ihrem chronologischen Kontext reißt und das Gesamtkunstwerk im Raum erfahrbar macht.
Acht Leinwände stehen dem Festival zur Verfügung, darunter das Cinema de São Jorge mit seinem majestätischen Sala Manoel de Oliveira oder die Cinemateca der Stadt. Das Festivalzentrum befindet sich im Norden, im Culturgest, einem Kulturzentrum, eingebettet in einem der Hauptgebäude von Portugalsa größter Bank Caixa Geral de Depósitos. Und um die Ecke steht die zwiebeltürmige Stierkampfarena der Stadt auf dem Campo Pequeno. Wie dort gekämpft wird, das konnte man auf der Leinwand erleben, in Margarida Leitão „Face to Face“: Leitão folgt den sogenannten forcados aus ihrem Privatleben in die Arena, junge Männer, die den Stier frontal attackieren. Einer muss dem Stier zwischen die Hörner springen, auf dass ein ganzer Trupp ihn vom wild tobenden Tier befreit. Ein finaler Sieg, eine gewaltige Mutprobe, wie Leitão zeigt. Die Angst der Männer, bevor sie aus den äußeren Rängen in die Arena steigen, ist sichtbar, in den Augen, den angespannten Körpern.
Die Dokumentarfilmer können immer weiter in Lebenswelten eindringen, sind dank digitaler Kameramöglichkeiten spontaner denn je. Mike Lerner und Maxim Pozdorovkin beschäftigen sich in „Pussy Riot: A Punk Prayer“ mit dem Prozess gegen die berühmteste russische Girl-Band der Welt. Sie zeigen die Gruppe bei den Vorbereitungen zu ihrer Aktion in der Christ-Erlöser-Kirche in Moskau, verwaschene Digitalbilder dokumentieren den „blasphemischen“ Akt selbst. Der Film erteilt auch den in ihren religiösen Gefülen verletzten Orthodoxen das Wort, wirft sich aber klar auf die Seite seiner Heldinnen, die aus dem Prozess eine Fortsetzung ihrer staatskritischen Performance machen, aus ihrem Prozess-Kaefig heraus, aus nächster Nähe gefilmt.
Gerade das Mobiltelefon wird immer häufiger als spontan einsetzbares Aufnahmemedium genutzt, nicht nur in fürs Kino gemachten Dokumentarfilmen. Eine Reihe des Festivals, „Cinema of Urgency“, bringt kleine, von Privatpersonen gemachte (Handy-)Filme, die man auf Youtube und sonstwo im Netz finden kann, auf die große Leinwand, vom „Firing at Egypt Muslims during Prayer“ bis zur „Gay Pride Parade in St. Petersburg“. Jeder kann heute zum Dokumentarist einer unsicheren Zeit werden, das politische Kino greift sich alle Quellen und wird oft in Bezug zu privaten Krisen gesetzt. Der italienische Theatermacher, Filmregisseur, Tausendsassa Pippo Delbono, den man in München von seine Resi-Inszenierung „Erpressung“ her kennt, führt in „Sangre/Blood“ assoziativ eigene Gefühlslagen mit der politischen Geschichte seiner Heimat eng. Zunächst scheint im Zentrum seine fragwürdige Freundschaft zu dem Rote-Brigade-Anfuehrer Giovanni Senzani zu stehen, der 2004 nach langjähriger Haft aus dem Gefängnis entlassen wurde. Aber dann konzentriert sich Delbono auf seine eigene todkranke Mutter, die er mit seinem Handy filmt und bis zum Sterbebett begleitet, sie auch als aufgebahrte Leiche zeigt. Drei Tage nach ihrem Tod stirbt Senzanis Ehefrau, der Verlust bringt die Männer noch näher: Delbono nutzt den Moment und bringt Senzani dazu, von einem politischen Mord zu berichten.
Delbono erhielt eine Special Mention der Jury. Der mit 8000 dotierte Hauptpreis im Internationalen Wettbewerb ging an Joaquim Pintos fast dreistündiges Filmtagebuch „What now? Remind me“. Pinto, ein Kind Portugals, berühmter Tondesigner für Regisseure wie Raúl Ruiz oder Werner Schroeter und selbst anerkannter Filmemacher, lebt seit über zwanzig Jahren mit HIV und Hepatitis C und hat sich ein Jahr lang selbst und seine Umgebung gefilmt. Er gibt Einblick in seine Behandlung, reflektiert über Epidemien und den prekären Stand der Welt, zeigt sich und seinen Lebenspartner Nuno bei ihren Aufenthalten auf dem gemeinsamen Landsitz, beim Herumtollen mit ihren Hunden, beim Sex. Und nimmt sich Zeit bei der Naturbetrachtung, observiert eine Libelle minutenlang – im Angesicht des Todes verdienen die schönen Details des Lebens alle Zeit der Welt.
Den Preis für den besten Film im Wettbewerb der portugiesischen Filme bekam Gonçalo Tocha fuer „The Mother and the Sea“: Er suchte in dem Küstenort Vila Cha die letzte „pescadeira“ auf, die Fischerfrau Glória. Eine Generation davor gab es viele dieser Frauen, die wie die Männer mit Fischerbooten ins Meer stachen. Seefrauengarn wird geflochten, Regisseur Tocha lässt Glória als Interviewerin andere befragen, in kleinen dunklen Räumen. Aber durch die Fensterrahmen, welche den filmischen Bildrahmen verdoppeln, sieht man Sonnenuntergänge, das ewige Meer. Lyrische Eindrücke einer entbehrungsreichen Existenz.
Überlebenskampf überall: Zum Abschluss wurde der jüngste Spielfilm des abwesenden Jury-Präsidenten gezeigt: In „Manuskripts Don`t Burn“ erzählt Mohammad Rasoulof die Geschichte eines Schrifstellers im Iran, der, beobachtet vom Geheimdienst, seine Memoiren veröffentlichen und heimlich ausreisen will – eine fiktive Auseinandersetzung mit der Zerrissenheit des Künstlers in einem autoritären Staat, im Geheimen gefilmt, dokumentarisch in seiner Nähe zur eigenen Biographie. Der Film war krönender Abschluss eines begeisternden Festivals.