Fulminant komische Auseinandersetzung mit der NS-Vergangenheit
Fulminant komische Auseinandersetzung mit der NS-Vergangenheit
Der Holocaustforscher Toto ist gestresst. Man hat ihm einen Ignoranten vor die Nase gesetzt. Aber dann kommt eine junge Frau aus Frankreich und verändert erst mal alles. - Fulminant komische Auseinandersetzung mit der NS-Vergangenheit.Wilfried Geldner
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Edith Held / Four Minutes Filmproduktion Im Laufe ihrer gemeinsamen Recherchen für einen Holocaust-Kongress entdecken Zazie (Adele Haenel) und Toto (Lars Eidinger), dass ihre Vorfahren Täter und Opfer waren.
Fast 20 Jahre ist das nun schon wieder her, dass der Schriftsteller Martin Walser
mit seiner Frankfurter Friedenspreis-Rede den berühmten "Auschwitz-Streit" entfachte. Man könne den Deutschen nicht ewig die Vergangenheit vorhalten, sagte er damals - diese "Moralkeule" verhindere nur wahre Einsichten und Ehrlichkeit. Keule hin oder her:
Chris Kraus' neuer Film "Die Blumen von Gestern" setzt sich nun scheinbar unbekümmert mit Auschwitz auseinander - aus einer sehr subjektiven Sicht heraus und mit tiefer Komik. Ein Holocaust-Kongress steht an, ausgerechnet jetzt könnten die Querelen
am zuständigen Ludwigsburger Institut nicht größer sein. Da bringt eine junge Praktikantin aus Frankreich frischen Wind ins Haus mit ihrer Sicht der Dinge. Totila Blumen, genannt "Toto" (
Lars Eidinger), Holocaust-Forscher und ehrgeiziger Jungprofessor, ist nicht gut drauf. Ehekrise, die Haare fallen aus. Der Stress am Institut ist groß, man hat ihm seinen Kollegen Balthasar (Jan Josef Liefers
) vor die Nase gesetzt, nachdem der von ihm verehrte Lehrstuhl-Inhaber starb. Kein Wunder, dass da Toto zu Wutausbrüchen neigt. Zumal er ja auch noch eine neue französische Praktikantin betreuen muss. Zazie (Adèle Haenel) nervt ihn mit ihrer Munterkeit. Ihre unbekümmerte Exaltiertheit ist ihm unerträglich. Aber er liebt sie eben doch, vielleicht auch, weil sie jüdische Eltern hat. Sie werden gemeinsam recherchieren über das Damals, werden
Überlebende befragen, darunter eine berühmte Schauspielerin
, die den Vorsitz beim Kongress übernehmen soll, das aber gar nicht will (zutreffend zynisch: Sigrid Marquardt in ihrer letzten Rolle). Geglückte Gesichtsoperationen sind ihr lieber als die schreckliche Vergangenheit. Es gibt Zweikämpfe, die man hanebüchen nennen müsste, wäre das Hintergrundthema nicht so ernst und letztlich unbewältigbar. Toto und sein Chef hauen sich Beschimpfungen und Vorwürfe um die Ohren, und gleich kriegt Jan Josef Liefers in der Rolle des arroganten Holocaust-Experten was auf die Nase. Mit seiner Kieferschiene sieht er aus, als wäre er gerade einem furchtbar witzigen Münsteraner "Tatort" entsprungen. Und nicht zuletzt ist ja auch Eifersucht
im Spiel: Toto musste mit ansehen, wie der Kollege mit Zazie schlief! Aus Rache für den Fausthieb wirft Zazie bei einer Autofahrt durchs Grüne Totilas Hund durchs Fenster - der lütte Mops fliegt in hohem Bogen strampelnd fort. Temperament hat die Kleine. Sie lässt sich nicht unterkriegen und findet auf alles im schönsten Akzent das passende Widerwort. Was sich liebt, das neckt sich, möchte man sagen, zielte der Satz nicht viel zu kurz. Totilas Großvater war Nazi und wohl auch am Tod von Zazis Großmutter schuld. Beide sind damals in dieselbe Schulklasse gegangen, wie ein Foto beweist. Lars Eidinger
und der neue französische Star Adèle Haenel (derzeit auch in "Das unbekannte Mädchen" zu sehen): zwei Königskinder, die einander nicht finden, machen aus ihrer Begegnung eine umwerfende Liebeskonfrontation, ein gigantisches Gefühlsduell. Etwas zwischen Tragikomödie und Groteske, das derart einmalig ist, dass man es nicht ohne Weiteres einem bestimmten Genre zuordnen mag. Der Film ist für keine Schublade geeignet, schon gar nicht für die mit der Aufschrift "Holocaust". Bei allem Aberwitz der etwas papieren geratenen Kongresssituation ist "Die Blumen von Gestern" ein sehr persönlicher Film. Kraus, der wegen der NS-Vergangenheit seines Großvaters selbst Nachforschungen in den Archiven betrieb, kriecht mit Eidingers Hilfe in die Toto-Figur förmlich hinein, lässt bei aller Wut seinen Hauptdarsteller auch immer das Traurige und Verzweifelte spielen. Und Adèle Haenel ist dabei stets ein espritgeladener guter Geist.