Fünf Tipps der AZ-Redaktion für das 38. Münchner Dok.Fest
Das 38. Internationale Dokumentarfilmfest, das am vergangenen Mittwoch begann, geht ab dem heutigen Montag (8. Mai) online.
Dabei sind die meisten Filme, die im Kino gezeigt werden, jetzt auch bis 21. Mai, digital abrufbar. Das digitale Ticket für einen Film ist für 5 Euro erhältlich, der Festivalpass für alle – und das sind mehr als 100 – Filme kostet 50 Euro.
Die AZ-Redaktion hat fünf Filmempfehlungen zusammengestellt:
"My Pet and Me" und die tragikomische Beziehung zwischen Mensch und Tier
"Seit ich die Menschen kenne, liebe ich die Tiere". An dieses Zitat, das Arthur Schopenhauer zugeschrieben wird, muss man bei Johan Kramers tragikomischen Dokumentarfilm über die manchmal seltsamen Verbindungen zwischen Haustier und Mensch denken, die hier das übliche Maß an Vertrautheit übersteigen.
Der Niederländer porträtiert ganz normale Menschen, ob sich ein junges Mädchen bei der Riesenschnecke Nokia entspannt, sich ein Friseur an seinen haarlosen Katzen erfreut, eine Vierzigerin mit Hund am Dogdance-Wettbewerb teilnimmt, oder eine in der Schule gemobbte autistische Schülerin in einem kurzatmigen Mops einen Freund findet, der sie versteht.

Ein unzertrennliches Band verbindet Menschen mit ihren Viechern, in deren bedingungsloser Liebe sie Sicherheit und Anerkennung erfahren. Da kommt die Frage auf, inwieweit füllen die "Pets" eine Lücke im Leben der Protagonisten, die sich von anderen fernhalten aus Angst vor Abweisung oder Ausgrenzung. Was sagt das über unsere Gesellschaft aus? Nach diesem Ausflug in Grenzgebiete der Gefühle sind heiße Diskussionen garantiert.
Margret Köhler
"The Last Seagull" zeigt einen Escort, der sich zur Ruhe setzen will
Drahtig gebaut, mit verspiegelter Sonnenbrille und Dosenbier tänzelt Ivan über den Sunny Beach. Auf die Russinnen und Ukrainerinnen hat er es abgesehen. Reiche Touristinnen am bulgarischen Strand. Russisch, das kann er, wenn auch nicht wirklich gut. Für Komplimente reicht es. Ivan ist ein "Seagull", eine Möwe. So nennt man die Männer, die Frauen gegen Geld "die Seele retten", wie sie sagen.
In den späten 70ern, schien das ein einigermaßen einträgliches Geschäft gewesen zu sein. Doch nun macht Ivan diese Arbeit schon seit 40 Jahren, der gebräunte Körper hat Falten bekommen, die Haare sind ergraut. Um sein Handy zu bedienen, muss er längst die dunkle Sonnenbrille gegen eine Lesebrille eintauschen. Und Ivan weiß auch, dass seine Zeiten vorbei sind. Er will sich zu Ruhe setzen.

Doch die Suche wird jäh unterbrochen, als auch am bulgarischen Sonnenstrand die Schirme zu bleiben. Im Juni 2020 steht Ivan mit Corona-Maske allein an einem leeren Strand. Die "Seagulls" als letztes Glied einer Dienstleistungskette haben fast gar kein Einkommen mehr. Hier offenbart sich der tragische Kern dieses Films. "Warum ich gegen Geld mit Frauen schlafe? Weil ich arm bin", sagt Ivan einmal resigniert. Dabei verdient er gerade zu diesem Zeitpunkt gar kein Geld mit Sex. Stattdessen sieht man ihn auf einem Bauernhof aushelfen.
Während er Kühe hütet, versucht der ergraute Mann, russische Frauen per Videoanruf zu überzeugen, nach Bulgarien und so zu ihm zu kommen. Doch auch das scheitert. Zumindest mit seinem Sohn, der in Kiew wohnt, will er sich versöhnen. Endlich sein Enkelkind treffen. Nein, mit den schmissigen ersten zwanzig Minuten dieses Dokumentarfilms hat der Großteil von "The Last Seagull" nichts zu tun. Aber es ist genau dieser Kontrast, der den Film so berührend und stark macht.
Sophie Anfang
"#RaceGirl" verfolgt Sophia Flörsch beim Traum, als erste Frau in der Formel 1 zu fahren
Es geht lustig los, unbeschwert: Kinder beim Kartfahren. Nett, die Süßen mit ihren riesigen Helmen und der Rennfahrerkluft am schmalen Leib, einfach zum Knuddeln. Dann sieht man genauer hin: Ah, Lewis Hamilton! Und da, noch ein Weltmeister: Max Verstappen, der als Kind tatsächlich ganz schön pummelig war. Daneben: Sophia Flörsch. Sie alle geben auf die Frage "Und was willst du mal werden?" die gleiche Antwort: "Formel-1-Fahrer!" Das scheint für das kleine Mädchen noch aussichtsloser zu sein.
"#RaceGirl" erzählt die Geschichte einer jungen Frau, die mit 22 schon so viel erlebt und durchlitten hat, dass sie so reif und zuweilen auch desillusioniert wirkt wie eine Mittdreißigerin. Seit sie vier ist, trainiert sie, um als erste Frau in der Formel 1 zu starten und dort auf dem Podium zu stehen – ein Kampf gegen Windmühlen. Wenige Minuten nach den Bildern von den ersten Kart-Rennen nimmt uns der Film mit zu dem Ort, der beinahe Sophia Flörschs Waterloo geworden wäre.
Sie ist 17, als sie im chinesischen Macau ein Formel-3-Rennen bestreiten darf. Sophias Rennen endet in Runde vier: Ein Wagen vor ihr bremst an der falschen Stelle, und sie schießt ungebremst mit Tempo 273 über mehrere Wagen hinweg und schlägt ein. Die Mutter sagt nur: „Mir war klar, dass sie das nicht überlebt hat.“ Hat sie aber doch, nach einer elfstündigen OP wegen gebrochener Brust- und Halswirbel. Ein Tausendstel Millimeter habe gefehlt und „es wäre ganz anders ausgegangen“, sagt Papa Alexander, der immer an ihrer Seite ist.
Als sie später erfährt, dass die Knochen zusammenwachsen und sie wieder Auto fahren darf, hüpft sie wie auf Wolke sieben durch eine finstere Tiefgarage. Typischer Satz: "Für mich ist der Sport alles." 106 Tage nach dem Crash sitzt sie wieder im Rennauto. Sie will nicht "das Mädchen mit dem Unfall" sein, sondern "das Mädchen mit den Erfolgen". Die hat sie dann zwar, allein: Es hilft nichts.
Der Zuschauer lernt, dass es im Motorsport nicht darauf ankommt, schnell zu sein. Sondern: dass nur das Geld zählt. Wer nicht gerade Formel 1 fährt, verdient nicht nur nichts, sondern muss vielmehr zahlen, damit er/sie fahren darf. Ihr Rennstall-Chef will sie zwar als Fahrerin haben, muss sie aber dennoch rauswerfen, weil sie nicht genügend Sponsorengeld auftreiben konnte, um die letzten Rennen der Saison fahren zu können. Ohne Kohle kein Rennen.
Und dann gehen die Flörschs einfach nach Hause. Kein Happy End, nirgends. Kurz vor dem Abspann: die nächste Volte. Flörsch ist ins Juniorteam eines Formel-1-Rennstalls aufgenommen worden – der Traum lebt weiter. Man sollte sich nicht wundern, wenn das RaceGirl irgendwann tatsächlich mal in einem Formel-1-Boliden sitzt, als erste Frau.
Thomas Becker
"Seyran Ates: Sex, Revolution and Islam" porträtiert eine kämpferische Berliner Imanin
Flüche, Beschimpfungen als Stück Scheiße, Arschloch und Abschaum oder verfickte, hässliche Hure sowie Hunderte von Drohungen, sie abzustechen oder hinzurichten, hat die deutsche Imamin, Feministin und Rechtsanwältin Seyran Ates erhalten. Zwei Fatwas wurden gegen sie ausgesprochen, ihre Bücher über Sexualität, Feminismus und Glauben verteufelt, seit 2006 steht sie unter Polizeischutz, der türkische Präsident Erdogan diffamiert sie als Terroristin.
Die Tochter einer türkischen Mutter und eines kurdischen Vaters wurde 1963 in Istanbul geboren, seit ihrem sechsten Lebensjahr wuchs sie in Berlin auf. Als sie die Eltern fragte, warum ihre Brüder mehr Freiheit bekamen als sie, war sie das "böse Mädchen". Mit 17 verließ sie die Familie. Sie fordert eine Erneuerung des Islams für das 21. Jahrhundert, der heute noch so wie im 7. Jahrhundert gelehrt werde und kämpft für einen "progressiven Islam" und gegen das Patriarchat. "Dazu gehört auch eine sexuelle Revolution".

Die Norwegerin Nefise Ozkal Lorentzen hat Seyran Ates über mehrere Jahre hinweg für dieses Porträt begleitet. Der radikale Islam sei nur durch den Islam zu überwinden, der "vielfältiger ist als viele Menschen denken", so Ates. Die von ihr gegründete liberale Ibn-Rushd-Goethe-Moschee in Berlin ist ein Ort, wo Gläubige ohne Geschlechtertrennung oder Kopftuchzwang zusammen beten, auch ungeachtet ihrer sexuellen Orientierung. Weltweit setzt sie sich für Geschlechtergerechtigkeit im Islam ein wie für LGBTQ-Rechte.
Wie kompatibel ist der Islam mit Freiheit und Demokratie? Kann der politische Islam, als Gegenentwurf zur säkularen Moderne, eingedämmt werden? Diese Fragen treiben die Aktivistin um. Und sie gibt die Hoffnung nicht auf. Bestes Beispiel ihr Neffe: Nach dem Tod seines Vaters wurde der Junge zum konservativ-radikalen Muslim. Er ließ sich gegen Andersgläubige aufhetzen, wollte für Gott und Islam sterben. Mit Hilfe von Seyran öffnete er sich, lernte in ihrer Moschee den fortschrittlichen Islam kennen und sich ohne Hass dem Leben zuzuwenden.
Margret Köhler
Die österreichische Wintersport-Kaderschmiede "Stams" – faszinierend und grenzwertig
Kurz vor dem Abspann sind die Neuen da. Milchgesichtige Teenager, eher noch Kinder, die mit frohen, neugierigen Augen und einem Lachen im Gesicht in die Kamera schauen, die das Willkommens-Foto von ihnen schießt. Ein schmerzhafter Kontrast zu den Aufnahmen wenige Minuten zuvor, die die Schüler der gleichen Schule zeigen, die schon seit vier, fünf Jahren hier sind.
Müde, leer, desillusioniert, perspektiv- und freudlos schauen sie drein, gezeichnet von einer Jugend, wie sie nicht viele ihresgleichen erleben. Eine Jugend voller Verzicht, Entbehrungen und Schmerzen. Alles für das eine große Ziel: den Erfolg. Und damit willkommen in "Stams", dem Film über das österreichische Wintersport-Elite-Internat nahe Innsbruck. Ein Jahr lang hat Regisseur Bernhard Braunstein die Schülerinnen und Schüler begleitet und aufs Eindrücklichste die physische und mentale Herausforderung der Ausbildung dort dokumentiert.

Die Kamera begleitet die Insassen der erfolgreichsten Winter-Kaderschmiede der Welt (31 Gold-, 42 Silber- und 46 Bronzemedaillen bei Winter-Olympia, 100 Gold-, 103 Silber- und 82 Bronzemedaillen bei Weltmeisterschaften) in alle Bereiche: in den Kraftraum, zur Video-Analyse, in den Schul-Unterricht, bei der Meditation, ans Keyboard, beim Telefonat mit den Eltern, in die Reha und natürlich zum Wettkampf.
"Jetzt bin ich vier Sekunden hintendran!", wundert sich eine Rennläuferin, "Warum ist die andere jetzt so schnell gefahren?" Die Kollegin ist auch ratlos: "Ja, keine Ahnung. Schon wieder keine Punkte!" Dennoch machen sie alle weiter, eine junge Athletin meint: "Ohne Sport bin ich nicht ich selber. Ich bin im Ski-Training, seit ich sechs bin!" Ein anderer sagt: "Früher bin ich mit der Mama jeden Tag frei Ski gefahren – jetzt nimmer.“ Skifoan is des Leiwandste? In "Stams" eher nicht.
Thomas Becker
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