Filmkritik zu "Cruella": Ursprung des Bösen
Böse dank schlechter Gene? Oder doch nur ein Produkt der Gesellschaft? Über die Frage nach dem Ursprung von individuellen Gewaltausbrüchen wird viel geforscht, und im Kino ist die Faszination für schillernde Psychopathen ungebrochen. Joaquin Phoenix bewies in "Joker", wie viel Tiefe sich aus einem Comic-Bösewicht herausholen lässt, wenn man nur will. Diese oscargekrönte Verwandlung eines Außenseiters in einen anarchischen Killer war sichtbar Vorbild für den Disney-Film "Cruella".
"Cruella": Wer verbirgt sich hinter der Schurkin aus 101 Dalmatiner?
Der Titel spielt auf Cruella De Vil an, die - gespielt von Glenn Close - in "101 Dalmatiner" besessen war, einen Pelzmantel aus Dalmatinerfell zu besitzen. Viel mehr als ihr extravagantes Äußeres, inklusive auftoupierter Schwarz-Weiß-Haare und einem schrillen Joker-Lachen, gab die Figur psychologisch aber leider nicht her.
Das will Craig Gillespie ("I, Tonya") mit "Cruella" nun ändern, der wie Todd Phillips in seinem "Joker" jetzt die Herkunftsgeschichte des populären weiblichen Disney-Bösewichts ergründet. Anders als das Angelina-Jolie-Vehikel "Maleficent" ist "Cruella" nicht in einer Fantasy-Welt, sondern im punkigen London des Jahres 1974 angesiedelt.
Cruella wird nahbarer und humaner
Diese realistische Erdung erweist sich als kluger Schachzug, weil Cruella so nahbarer und humaner wirkt. Eine zu Beginn etwas penetrante Selbstreflexion aus dem Off verstärkt die gewünschte Psychologisierung, wenn die von Tipper Seifert-Cleveland verkörperte Estella (später Cruella) als gehänseltes Außenseiterkind aus einfachen Verhältnissen charakterisiert wird. Der Tod des einzigen Elternteils, seit "Bambi" ein klassischer Topos von Disney-Filmen, ist auch in "Cruella" der Auslöser für eine (Anti-) Heldenreise.
Estella, die gesegnet ist mit einem Gespür für Mode, taucht nach dem gewaltsamen Tod der Mutter als Waise in London unter. Ganz deutlich nimmt Craig Gillespie hier Bezug auf "Oliver Twist", wenn sich das Hunde liebende Mädchen mit den liebenswürdigen Handlangern Jasper (Joel Fry) und Horace (Paul Walter Hauser) als gewiefte Diebin durchschlägt. Das hohe Erzähltempo wird etwas eingebremst, als Estella (als Erwachsene: Emma Stone) endlich legal in einem Kaufhaus, zunächst als Putzfrau, arbeiten darf. Ihr Faible fürs Design, für den modischen Aha-Effekt kann Estella, die ihr Schwarz-Weiß-Haar aus Scham rot gefärbt hat, dann bei der gefeierten Modezarin Baroness (Emma Thompson) ausleben.
Das amüsante Zusammenspiel der nervös-schüchternen Estella mit der narzisstischen, auf Perfektion achtenden Baroness erinnert stark an die Konstellation von Anne Hathaway und Meryl Streep in "Der Teufel trägt Prada". Mit dem entscheidenden Unterschied, dass Estella ihre Naivität lediglich zu spielen scheint.
"Cruella" gehört aufgrund der Bildgewalt unbedingt ins Kino
Bis zur Hälfte des überlangen Spektakels (134 Minuten), das mit seiner visuellen Grandezza unbedingt ins Kino gehört, bleibt die von Emma Stone genial verkörperte Figur in ihren Verhaltensweisen glaubwürdig. Das ändert sich, als Estella die Ursprünge für den Tod der Mutter herausfindet und sich wie Dr. Jekyll und Mr. Hyde schlagartig in die rachsüchtige Cruella verwandelt. Die böse Seite beschert dem Film visuelle Schauwerte wie Rockstar-Modenschauen, in denen die streng-elegante Haute Couture des von Emma Thompson verkörperten Establishments mit einer freigeistigen, an Vivien Westwood angelehnte Designkunst aufeinanderprallen. Verloren geht durch die Verwandlung aber die Integrität der Estella-Cruella-Figur. Dieses Gefühl einer fehlenden Stimmigkeit transportiert auch der Best-of-Soundtrack, der von "Feeling Good" (Nina Simone) bis hin zu "Five to one" (The Doors) fast nur Hits beinhaltet, die weit vor dem Zeitraum der Handlung 1974 durch die Decke gingen.
Immerhin wagt "Cruella" in seinem Standpunkt zur Genese des Bösen einen Kontrapunkt zu "Joker". Denn hier wird der Wahnsinn Estella doch schon in die Wiege gelegt. Und dieser Keim wächst gefährlich in ihr weiter, ob die Gesellschaft ihn nun wässert oder nicht.
Kunden von Disney+ können sich für 21,99 Euro auf disneyplus.com sowie über die Disney+ App ab morgen den VIP-Zugang sichern. "Cruella" läuft, wo es möglich ist, aber auch im Kino
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