Filmfestspiele von Cannes: Konservativismus und Zeitgeist

Das Filmfestival von Cannes geht in die Zielgerade – mit einem Film von Wim Wenders über Tokios Toiletten.
Adrian Prechtel
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Der Film "Perfect Days" spielt in Tokio und erzählt von einem Mann namens Hirayama (Koji Yakusho), der als Toilettenreiniger arbeitet und mit seinem einfachen Leben zufrieden ist.
Der Film "Perfect Days" spielt in Tokio und erzählt von einem Mann namens Hirayama (Koji Yakusho), der als Toilettenreiniger arbeitet und mit seinem einfachen Leben zufrieden ist. © Cannes-Festival

Mit seinem Clark-Gable-Bärtchen, der Kurzhaarfrisur und jetzt im schwarzen Gehrock mit einer schwarzen Schleife statt Fliege und der sanft blau getönten Brille wirkt Wim Wenders alterslos jung, wie er da mit seiner japanischen Crew den Roten Teppich hinauffedert – freudig bewegt, witzig irgendwie zwischen Alter Hase und aufgeregtem Kind. 

Sein "Perfect Days" wurde gefeiert. Es ist eine Schule des Sehens, zwei Lehrstunden der Achtsamkeit. Und dass es nicht langweilig wird, dafür sorgt das große Gespür für schöne Bilder und der sich ganz leicht beschleunigende Rhythmus.

Wim Wenders bekam Auftrag Tokios Toiletten zu würdigen

Denn viel passiert nicht im Alltag von Hirayama, den Japans Superstar Koji Yakusho verkörpert, der damit ein sicherer Darstellerpalmen-Anwärter ist, weil er – und Tokio als Stadtlandschaft – den Film trägt. Wenders erzählt in der Pressekonferenz, dass er nach Tokio eingeladen worden sei, um eine Idee zu entwickeln, wie man die modernen, architektonischen Kleinode der öffentlichen Toiletten hier würdigen könne.

Wim Wenders vor der Premiere seines Wettbewerbsfilmes "Perfect Days".
Wim Wenders vor der Premiere seines Wettbewerbsfilmes "Perfect Days". © picture alliance/dpa

Statt Fotografie oder Dokumentarkurzfilme sei ihm die Figur des glücklichen Toilettenputzers eingefallen, dessen Tagesritus man begleitet. Und es sind die kleinen Dinge – vor allem ein Baum im Park seiner Mittagspausen – und kleinen Begegnungen, die einem diesen Mann und sein Glücksrezept aufschlüsseln, ohne ihm seine Geheimnisse ganz zu nehmen – wie seine reiche Vergangenheit, seine Partnerlosigkeit, seine Liebe zur US-Rockmusik der 70er Jahre und zu Faulkner und Patricia Highsmith – natürlich auch alles Passionen von Wenders.

So ist ein wunderschöner, ruhiger, kinogemäßer Film entstanden, durchaus auch ein bisschen altmodisch. Was eines der Kennzeichen des Palmenwettkampfes der 76. Filmfestspiele in Cannes war.

Filmfestspiele von Cannes: Proletariats-Liebesfilm liegt ganz vorne

Nanni Moretti hat dies so nostalgisch und larmoyant getan, dass sein "Il sol dell'avvenire" bei den Kritikern durchfiel. Aki Kaurismäki wiederum, der zum zigsten Mal einen romantischen, lakonischen, nostalgischen Proletariats-Liebesfilm in Helsinki gemacht hat, liegt mit "Fallen Leaves" beim Palmenranking überraschenderweise ganz vorne. Aber es ist schwer vorstellbar, dass die Jury um den zweifachen Palmengewinner Ruben Östlund ("The Square", "Triangle of Sadness") an diesem Samstagabend derart retro und zeitgeistvergessen entscheidet.

Aktueller erscheinen die starken Frauengeschichten, selbst wenn sie historisch verankert sind, wie Alicia Vikander als letzte Frau Heinrich VIII. Gezeigt wurde auch eine unheimlich manipulative Lehrerin (Mia Wasikowska) in "Club Zero", die Schüler in einen Nichtesswahn treibt. Und dann gibt es die Geschichten, die die jahrzehntelange Sehgewohnheit älterer Mann, junge Frau umkehrt und auf die Spitze treibt: Todd Haynes hat das in "May December" mit Julianne Moore erzählt.

Wenn unideologische Filme plötzlich interessant werden

Und gerade hat noch im Wettbewerb die französische Altmeisterin des expliziten Sex, Catherine Breillat (74), die ruinöse Amour fou zwischen einer erfolgreichen Familienrechtsanwältin mit ihrem schwer erziehbaren Stiefsohn erzählt. Aber von diesem "Letzten Sommer" waren die meisten moralisch etwas überfordert – und als Remake des dänischen Films "Die Königin" von 2019 ist er nicht originell genug.

Viele Frauenfiguren sind sowohl über die Opferrolle als auch über ihre Heroisierung hinausgekommen. Sie können bei aller ihrer zentralen Stärke auch als moralisch zweifelhaft, große Fehler begehend, ja bösartig gezeigt werden. Und schon werden diese unideologischen Filme interessanter.

Filmfestival in Canner: Holocaust-Film und Krimi als Favoriten?

So verdichtet sich die Favoritenkür in Richtung zweier Filme: Da ist Jonathan Glazers "The Zone of Interest" – ein gelungener Versuch, vom Holocaust zu erzählen, ohne Horrorpornografie zu betreiben. Es geht um den "Garten Eden" und ihr großzügiges Haus, die sich das Ehepaar Höß mit ihrer Familie als Idylle an der Außenmauer des KZs Auschwitz geschaffen hat.

Sandra Hüller spielt die Gattin des KZ-Kommandanten (Christian Friedel) und es ist diese Hedwig, die in ihrem und Klammern an Privilegien mit ihrem Funktionärsmann über Leichen geht.

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Ein ebenfalls großer Palmenanwärter ist "Anatomie d'un chute", ein derart psychologisch ausgefeilter Krimi über eine Schriftstellerin, deren Mann eines Nachmittags tot vor dem Haus liegt. Und wieder ist es Sandra Hüller, die zwischen kämpferischer Stärke, Undurchschaubarkeit und nervlichem Flattern glänzt, als sie immer wahrscheinlicher als Mörderin festzustehen scheint.

Alles spricht also für den Darstellerinnenpreis an sie - und für den Film spricht, dass er von einer der sieben Regisseurinnen im Wettbewerb stammt, der Französin Justine Triet.

Alle "deutschen Filme" wurden mit ausländischen Mitteln finanziert

Aus deutscher Sicht ist bemerkenswert, dass seit Corona die Tradition großer deutscher Empfänge in Cannes abgebrochen ist. In diesem Jahr hätte man Wenders und Hüller als Stars des Festivals feiern können. Aber das ist die Ironie: Es sind alles keine "deutschen Filme", auch weil kein deutsches Geld in ihnen steckt. Selbst der auf Deutsch gedrehte "Interessengebiet" ist ein US-Film mit polnischer Unterstützung. Was zu den Amerikanern führt, die als wichtigste Filmnation im diesjährigen Wettbewerb keine große Rolle gespielt haben – außer dass Wes Anderson viele Hollywoodstars auf den Roten Teppich bringen konnte.

So wehte im – auch im besten Sinne – sanft konservativen Wettbewerb genau die richtige Brise des aktuellen Zeitgeistes, um das größte und wichtigste Filmfestival der Welt nicht retro wirken zu lassen.

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