Kritik

Filmfest in Venedig: In den Ruinen einer Familie

Das älteste Filmfest der Welt in Venedig zeigt sich begeisternd nah am Zeitgeist.
Adrian Prechtel
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Voll ins Schwarze getroffen: Schauspielerin Penelope Cruz und Regisseur Emanuele Crialese beim Aufmarsch in Venedig.
Voll ins Schwarze getroffen: Schauspielerin Penelope Cruz und Regisseur Emanuele Crialese beim Aufmarsch in Venedig. © Cinzia Camela/ipa agency/imago

Venedig - Nur wenige Filme sind avantgardistisch. Und so kommt durch längere Produktionszeiten der Zeitgeist im Kino oft erst sanft versetzt an. Aber nun hat er den Lido an seinem Zentralwochenende voll erfasst – und das unter großem Beifall.

Das begann mit "Monica" - einem Film des Italieners Andrea Pallaoro, in dem eine Frau aus Los Angeles an die Ostküste zurückfährt in das feudal-konservative Haus ihrer Mutter (Patricia Clarkson), die im Sterben liegt. Sie hatte vor zwanzig Jahren ihr 19-jähriges Kind an der Bushaltestelle abgesetzt mit den Worten: "Ich kann nicht länger deine Mutter sein!"

"Monica" von Andrea Pallaoro: Trace Lysette als verlorene Tochter

Tochter Monica wird gespielt von Trace Lysette, einem Namen, der sich etwas künstlich anhört. Und hatte man nicht gemeint, mitten im Film zu hören, dass die Mutter zwei Söhne hat? Trace Lysette ist eine Transgenderschauspielerin, die jetzt Monica spielt, die die Familie verlassen musste, weil sie transgender war, auf der Straße landete, sich mit Prostitution über Wasser hielt und in ihrer schwierigen Außenseiterposition ihr Leben nicht in eine glückliche Richtung lenken konnte. Am Ende steht Vergebung von etwas, das eigentlich unverzeihlich ist – die Aufgabe des Elternseins, weil das Kind nicht ins Schema passt.

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Wenn das Publikum weint

Das ist auch ein großer Aspekt in "l'Immensità". Und wenn am Ende eines Filmes viele im Auditorium weinen, so ist ein Film entweder sentimental im Kitsch versunken oder er hat alles richtig gemacht. Regisseur Emanuele Crialese hat alles richtig gemacht: Italien in den 70ern. Penélope Cruz spielt eine Mutter in einer großen, mondänen Neubauwohnung am Stadtrand Roms mit drei Kindern.

Kein Raum für Italien-romantische Nostalgie

Die Ehe ist längst erkaltet, aber man muss Formen wahren. Es herrscht eine katholische Klassengesellschaft, das Patriarchat ist gesetzlich gestützt. Gleichzeitig ist es die Zeit der großen TV-Musikshows, der Italianità und Beginn einer gesellschaftlichen Befreiung. Aber am Ende des Films ist kein Raum für Italien-romantische Nostalgie, in einer Zeit, in der Scheidung ein Skandal wäre, eine Ehefrau keinerlei Absicherung hatte und damit gefesselt ist, wenn sie ihre Kinder nicht verlieren will.

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Ein Film über eine Ehehölle

Ihre zunehmende Verzweiflung und ihr dauerndes Weinen werden durch einen Nervensanatoriumsaufenthalt "kuriert", aus dem sie ruhiggestellt wiederkommt. Und doch ist "L'Immensità" mehr als ein Film über eine Ehehölle, weil es noch die älteste Tochter Adriana gibt. Die Zwölfjährige will klar ein Junge sein, was unterdrückt, verdrängt, bestenfalls ignoriert wird - außer von der wunderbaren Mutter, gespielt von Penélope Cruz.

Warum Penélope Cruz gewinnen muss

Die Spanierin müsste allemal den Schauspielerinnenpreis gewinnen - nicht nur, weil sie als Superstar, der den Lido am Wochenende beehrt hat, zur "Leonessa del Lido" ausgerufen wurde und die beste Figur auf dem Roten Teppich machte, sondern weil sie in ihrem Können alle Facetten ihrer Filmfigur zeigt: Schüchternheit und Stärke, Verzweiflung und Verspieltheit.

"Ich mache mir keine Sorgen, um die Fantasien der Kinder", sagt sie in der großen Familienrunde zu den anderen Müttern, die mit latenter Nervosität auf die Tochter Adriana reagieren: "Ich mache mir eher Sorgen um die Fantasien der Erwachsenen." Emanuele Crialese wird mit seinem Film einen Preis bekommen müssen, so frenetisch wurde er mit seiner Hauptdarstellerin gefeiert.

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Dieser französischer Film ging zu Unrecht unter

Daneben ging ein schöner französischer Film der Regisseurin Rebecca Zlotowski etwas unter, obwohl es da um ein gesellschaftlich breiteres Problem geht: das Verpassen des Kinderkriegens und das sich einfügen, wenn der Partner bereits Kinder in die Beziehung mitbringt. "Les enfants des autres - Die Kinder der anderen" heißt dann auch der Film, der eine schöne Balance aus Tragik und Warmherzigkeit hat, aus Scheitern und Glück.

Gäbe es ein Applausmessgerät im Kinosaal, würde es zeigen, dass der aus weiblicher Perspektive gezeigte, sensible Film sehr gut ankam. Aber natürlich schlug der Applausometer heftiger aus bei Darren Aronofskys "The Whale", weil der Film wesentlich extremer ist.

Thema Body Shaming

Hier geht es wiederum zeitgeistig um das aktuell stark diskutierte "Body Shaming", wenn man keinen Model-Körper hat. Aber diese Korrektheit wird in "The Whale" auf eine extrem harte Probe stellt, denn Brendan Fraser ist nicht nur etwas fülliger. Er spielt - maskenbildnerisch bis zur Unkenntlichkeit verändert - einen Mann, der sich in seiner Wohnung kaum mehr bewegen kann, was ein filmisches Kammerspiel erzwingt. Denn er wiegt 300 Kilo.

Lange nicht so füllig wie im Film: Brendan Fraser (rechts) mit Regisseur Darren Aronofsky.
Lange nicht so füllig wie im Film: Brendan Fraser (rechts) mit Regisseur Darren Aronofsky. © Imago/Cover-Images

Eine Bewährungsprobe für alle

"Abstoßend", wie ihm seine 16-jährige Tochter ins Gesicht schleudert. Angewidert sind auch der sich bemühende evangelikale Jung-Missionar an der Tür und die Ex, die er vor acht Jahren verlassen hatte mit der Tochter. Damals war er schon massig, aber nicht außer allen Maßen geraten. Am Ende wird die Begegnung mit dem hilflosen und sterbenden Mann für alle eine Bewährungsprobe, ein katalysatorischer Effekt für eigene Lebenslügen - deren krassester Ausdruck natürlich die Fett-Verpanzerung der Figur von Brendan Fraser ist.

Mut zur Hässlichkeit

Es gibt ja die unausgesprochene US-Filmregel, dass wer - gerade im schönheitsverliebten Hollywood - in einem Film nur genügend Mut zur Hässlichkeit beweist, einen Oscar bekommt. Und das Festival in Venedig hat sich ja seit Jahren zum Oscar-Saisonauftakt entwickelt. Emanuele Crialese, Darren Aronofsky und Brendan Fraser können sich sowohl hier als auch in Hollywood große Hoffnungen machen.

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