Kritik

Eine wunderbare Kindheits-Erzählung: Fatih Akin verfilmt „Amrum“

Der Film „Amrum“ nach dem Roman von Hark Bohm ist ein kleines deutsches Filmjuwel
von  Philipp Seidel
Hille (Laura Tonke) und der junge Nanning (Jasper Billerbeck).
Hille (Laura Tonke) und der junge Nanning (Jasper Billerbeck). © Warner

Hineinwachsen in eine Welt, die in Auflösung begriffen ist - das ist verwirrend, vor allem, wenn man gerade mal zehn, elf Jahre alt ist und erst lernen muss, seinen geistigen Kompass auszurichten.

Fatih Akins „Amrum“ nach dem Roman und ursprünglichen Drehbuch von Hark Bohm erzählt vom jungen Nanning, der die letzten Tage des Zweiten Weltkriegs auf der Nordseeinsel erlebt. Die Gesellschaft auf der Insel ist gespalten: Es gibt die treuen Anhänger der Nazi-Ideologie wie Nannings Mutter (Laura Tonke), und es gibt die Menschen wie die rebellische Landwirtin Tessa (Diane Kruger), die einfach nur wollen, dass Hitlers Krieg aufhört. Das ist nach den Worten von Nannings Mutter aber „Wehrkraftzersetzung“!

Nanning (Jasper Billerbeck) in seiner Pimpf-Uniform mit dem Fahrrad seiner Tante.
Nanning (Jasper Billerbeck) in seiner Pimpf-Uniform mit dem Fahrrad seiner Tante. © Warner

Ein wunderbares Kammerspiel auf endlos weiter Bühne

Dazwischen gibt es noch ein paar so wundersame wie wunderbare Charaktere - Inselleute halt. „Amrum“ ist ein Film mit der knappen Ausstattung und dem Personal eines Kammerspiels, aufgeführt auf endlos weiter Bühne.

Als dann die Nachricht vom „heldenhaften Tod“ des Führers die Insel erreicht, kippt alles, was bisher sicher schien: Die NS-Günstlinge, eben noch die Mächtigen, sind plötzlich die Geächteten.

Ein Honigbrot als Liebesbeweis des Sohnes

Vor diesem Hintergrund erzählt „Amrum“ die Geschichte eines Heranwachsens - und eines Weißbrots mit Butter und Honig. Das wünscht sich Nannings Mutter sehnlicher als alles andere. Und nichts davon ist auf der von Kriegsnot geplagten Insel einfach zu haben.

Der Junge (stark: Jasper Billerbeck), getrieben von kindlicher Liebe zur Mutter, setzt alle Hebel in Bewegung, um ihr diesen Wunsch zu erfüllen. Er fragt, bittet, tauscht und organisiert raffiniert. Der ganze Film erzählt das als eine Abenteuerreise, deren Welt diese Insel (und kurz auch die Nachbarinsel Föhr) ist. Wir sehen, wie weit ein Junge in dieser Liebe zur Mutter gehen kann: In einer der eindrücklichsten Szenen nimmt er unter der Anleitung von Opa Arjan (Lars Jessen) zum ersten Mal ein Kaninchen aus. In seinem Gesicht spiegelt sich die Überwindung, die er dafür aufbringen muss.

In Pimpf-Uniform in die Nordseeflut

In einer ähnlich eindrücklichen und symbolstarken Szene taucht Nanning in seiner Pimpf-Uniform immer tiefer in die aufsteigende Nordseeflut, tapfer eine Zuckerdose (alles für das Honigbrot - es ist komplex) über Wasser haltend, während er das Fahrrad seiner Tante und die Uniformkappe opfern muss.

Jasper Billerbeck (li.) und Regisseur Fatih Akin bei der Deutschlandpremiere von „Amrum“.
Jasper Billerbeck (li.) und Regisseur Fatih Akin bei der Deutschlandpremiere von „Amrum“. © picture alliance/dpa

Nanning sucht die Liebe der Mutter, gleichzeitig hört er vom eigenbrötlerischen Sam Gangsters (wieder mal eine wunderbar kauzige Rolle für Detlev Buck), dass seine Eltern für den Tod seiner jüdischen Tante verantwortlich sind, kann es aber nicht glauben: „Du lügst, meine Eltern haben so etwas nicht getan!“ Haben sie aber natürlich doch, Nazis halt.

Schwerer historischer Stoff, aber kein finsterer Film

Immer wieder steht der junge Nanning verwirrt blinzelnd da, wenn die Dinge im Kopf nicht zusammenpassen, wenn er hin- und hergerissen ist zwischen den Emotionen. Etwa auch bei der Frage, wer denn ein echter Amrumer ist. Die Flüchtlinge, die da gerade aus den deutschen Gebieten im Osten kommen, doch wohl kaum? Aber kann man dann selbst echter Amrumer sein, wenn man in Hamburg geboren wurde?

Das Inselleben in diesem Film dreht sich nur um die Grundlagen des Daseins, um Leben und Tod. Es gibt die Weite des Watts und des nordfriesischen Strandes zu sehen, viel Himmel. Immer wieder packt Nanning (und den Zuschauer) das Grausen, wenn er etwa einen toten Piloten am Strand sieht, wenn er die Gedärme des Kaninchens herauslöst oder ein totes Küken in einem Gänse-Ei findet.

Das Ei der Gans zurückgeben

Bei aller Schwere des historischen Stoffs ist „Amrum“ kein finsterer Film, im Gegenteil: Er ist durchzogen von Optimismus, von der Hoffnung auf die junge Generation. Nannings moralischer Kompass und sein Gewissen funktionieren bestens, Akin zeigt das in mehreren starken Szenen. Wenn Nanning etwa (wieder mal für Mutters Brot) ein Gänsenest plündert, aber der hilflosen Gans eines der Eier zurückgibt.

Familiäres Landleben 1945.
Familiäres Landleben 1945. © Warner

Oder wenn er einen Flüchtling, der ihn eben noch verprügeln wollte, aus dem Wasser rettet. Und auch die Bande zwischen Nanning und seinem besten Freund Hermann (Kian Köppke) überstehen den Systemumbruch.

Kino: Astor im Arri, ABC, Rio, Leopold
R: Fatih Akin (D, 93 Min.)

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