Eine Sex-Therapeutin geht zu weit
In Anja Marquardts Film "She's lost control" kümmert sich eine junge Frau als "Sexual surrogate" um Männer, die Probleme mit Berührungen und Sex haben. Bis die Situation eskaliert.
Das wird Anja Marquardt sich wohl nie erträumt haben, was hier in Berlin mit ihr und ihrem Film passiert: Harte Zeiten hat sie hinter sich, die heute 33-jährige Berliner Filmemacherin, die in New York Regie studierte, in einer der teuersten Städte der Welt irgendwie dort überleben musste. Als sie nach einigen Kurzfilmen ihr erstes langes Projekt, einen Thriller in Lateinamerika, drehen wollte, brachte sie einfach nicht das Budget zusammen. Marquardt musste umdisponieren, schrieb ein Drehbuch über eine Frau, die in New York auch aus geldlichen Gründen einen außergewöhnlichen Job ausübt, und startete einen Finanzierungs-Aufruf auf der Crowdfunding-Plattform Kickstarter.
Mit Erfolg. Das Sounddesign und die Tonmischung übernahmen die Babelsberger Postproduktionsfirma Rotor Film. Und jetzt konnte Marquardt ihren Film "She's lost control" auf der Berlinale in der Forum-Reihe zeigen. Zunächst im Delphi-Theater, dann gestern in einem riesigen Cinemaxx-Saal, der zur Nachmittagszeit proppevoll war. Traumhaft.
Der Film selbst ist eine Studie in Einsamkeit, nah am Puls unserer Zeit, in der Pornografie überall verfügbar ist, der Umgang mit Sexualität aber - oder gerade deswegen - nicht leichter geworden ist, sondern echte Intimität wegen falscher Vorstellungen und (Versagens-)Ängsten schwer zu erzeugen ist. Ronah, gespielt von der wunderbaren Entdeckung Brooke Bloom, ist allein in New York, friert schon mal vorsorglich Eizellen in einer Klinik ein, damit sie vielleicht eines Tages, wenn der richtige Partner gekommen ist, ein Kind haben kann, auch wenn sie aus dem zeugungsfähigen Alter heraus ist. Ausgerechnet sie hat einen außergewöhnlichen Job: Als Therapeutin kümmert sie sich im Auftrag eines Psychologen um Patienten, die Angst vor sexuellem Kontakt und Intimität haben.
Tatsächlich gibt es diese "sexual surrogates", wobei der Film sich vermutlich einige dramaturgische Freiheiten nimmt, im Grunde vor Augen führt, dass dieser Beruf nicht funktionieren kann. Denn Ronah zeigt sich zwar versiert im Umgang mit den Patienten, kommt ihnen erst im Gespräch näher, animiert sie dann sanft zu Berührungen, lässt sie Körperteile, ihr Haar streicheln, führt sie an sexuelle Kontakte heran, in der Hoffnung, dass die Zurückhaltenden lernen, sich einem anderen Menschen geistig und körperlich zu öffnen. Sie selbst lässt sich jedoch zunehmend auf ihre Patienten ein, knöpft automatisch emotionale Bande, besonders mit einem neuen Patienten, einem Anästhesisten, mit dem sie eine Art Beziehung anfängt, den sie bis in seine Arbeitsstelle verfolgt, bis die Situation zwischen beiden brenzlig wird.
Marquardts Film ist über weite Strecken ruhig, in schlichten, schön komponierten Bildern inszeniert, zeigt das Leben Ronahs in seiner Komplexität (in Ronahs Apartment kommt es zu Wasserlecks, was zu Reparaturen führt, welche die eh schon finanzgeschwächte Therapeutin selbst übernehmen muss) und gleitet nie, trotz einiger Nacktszenen, ins Voyeuristische ab. Die Explosion am Schluss wirkt jedoch aufgesetzt und wenig glaubwürdig. Insgesamt aber ein gelungenes, stilsicheres Debüt, das auf die nächsten, hoffentlich einfacher zu finanzierenden Projekte Marquardts neugierig macht.
- Themen: