Edward Bergers Berlinalefilm „Jack“ in der AZ-Kritik
Nieselregen, dunkle Wolken, kühle Brise. Als hätte sich Petrus daran erinnert, dass jetzt die Berlinale beginnt, verscheucht er das sonnige Frühlingserwachen vom heiteren „Grand Budapest Hotel“-Auftakt, um der winterlichen Moll-Stimmung des Wettbewerbs zu entsprechen.
Der erste deutsche Beitrag „Jack“ wird diesem Ruf gerecht, ist aber doch ein echter Lichtblick im häufig gescholtenen heimischen Kino. In jeder Szene ist die wacklige Handkamera auf Augenhöhe mit diesem neunjährigen Jack (Ivo Pietzcker), einem Burschen, der mehr Verantwortung übernehmen muss, als sie ein Erwachsener tragen könnte.
Aber was bleibt ihm anderes übrig, wenn die eigene Mutter plötzlich spurlos verschwindet und er auf seinen jüngeren Bruder aufpassen muss. Im Stile der Dardenne-Brüder ist dieser ganz dem Sozialrealismus verpflichtete Film gedreht. Und doch vermeidet Edward Berger, der bisher nur mit TV-Filmen in Erscheinung getreten ist, jedes Schwelgen in Depri-Stimmung. Herzzerreißend ist es mitanzusehen, wie Jack, der ständig schwitzt und mehr rennt als Lola, versucht, über die Ex-Freunde seiner viel zu jungen Partymaus-Mutter an ihre Adresse zu kommen.
Tiefgaragen im nächtlichen Berlin
Eine unglaubliche Kraft scheint dieser nie jammernde Kerl zu besitzen, wenn es ihm im nächtlichen Berlin immer wieder gelingt, Schlafplätze in Tiefgaragen aufzuspüren oder sich auf gefährlichen Underground-Partys durchzufragen. Bären-würdig ist da vor allem das Spiel von Ivo Pietzcker, der in jeder Szene im Bild ist und beim Kampf mit sich und den schwierigen Verhältnissen immer glaubwürdig bleibt. Lobenswert auch der Ansatz, keinen Unterschichten-Problemfilm mit erhobenem Zeigefinger drehen zu wollen. Denn „Jack“ spielt nicht im Plattenbau, sondern bei „Normalos“, die durchaus Umgangsformen beherrschen, aber halt mal – so wie Mutter Sorglos im Film – drei Tage ihr Kind vergessen.
Unvergesslich war die Pressekonferenz, in der Ivo Pietzcker mit seiner Abgeklärtheit allen die Schau stahl. Mit der langen Erfahrung eines 11-Jährigen erklärte er, dass er „eine Karriere als Fußballprofi längst aufgegeben hätte“ und auch die Schauspielerei „nicht seine Bestimmung wäre“. Schade eigentlich, denn mehr Ausdrucksstärke ohne Übertreibungen in der Mimik sieht man bei Kindern selten.
Zum Vergessen war aber der zweite Wettbewerbsbeitrag „Two Men in Town“ von Rachid Bouchareb. Oscarpreisträger Forest Whitaker agiert hier an der Grenze zur Karikatur, wenn er mit großen Gesten einen Ex-Copkiller mimt, der nach 18 Jahren Knast versucht, in New Mexico wieder Fuß zu fassen. Bouchareb greift in seinem zu langen, vorhersehbaren B-Picture tief in die Klischeekiste, wenn diesen zum Islam konvertierten Ex-Knacki die Vergangenheit (darunter Verbrecherkumpane und Harvey Keitel als Patrioten-Sheriff) einholt.
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