Cannes: Es bleibt in der Familie

Zwei Höhepunkte, aber auch viel zu viel Mittelmaß prägen den Wettbewerb beim Filmfest in Cannes
Adrian Prechtel
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m Film „Fuori“ von Mario Martone erlebt eine Schriftstellerin im Rom der 80er-Jahre nach einem Diebstahl Frauensolidarität am Rande der Gesellschaft. Fotos:
m Film „Fuori“ von Mario Martone erlebt eine Schriftstellerin im Rom der 80er-Jahre nach einem Diebstahl Frauensolidarität am Rande der Gesellschaft. Fotos: © Festival du Cannes

Kurz vor dem Großen Preis von Monaco am kommenden Wochenende geht auch Cannes auf die Zielgerade, ehe die Kulturjournalisten von der Cote d’Azur abreisen, die Society-Berichterstatter nur 55 Kilometer nördlich zur Formel Eins wechseln und Motorsportexperten dazukommen.


Neu ins Rennen gegangen um die Goldene Filmpalme ist ein breit gefächertes Feld aus Teams aus Italien, Spanien, Norwegen sowie den USA und Iran. Und nachdem Jafar Panahi mit seinem Film "Un simple accident" einen „Coup de Coeur“ gelandet hatte - mit seinem Drama um Folteropfer des Mullah-Regimes, die glauben, ihren ehemaligen Peiniger von der Staatspolizei entdeckt zu haben und Rache nehmen wollen -, ist sonst alles im Mittelfeld geblieben.

Der iranische Regisseur Jafar Panahi ist mit seinem neuen Film "Un simple accident" ein Anwärter auf die Goldene Palme.
Der iranische Regisseur Jafar Panahi ist mit seinem neuen Film "Un simple accident" ein Anwärter auf die Goldene Palme. © Festival du Cannes

Italien war mit dem 65-Jährigen Mario Martone am Start und hat mit „Fuori“ gelangweilt: Es ist die Geschichte einer Schriftstellerin im Rom der 80er-Jahre, die in Geldnot einen Juwelendiebstahl begeht. Im Frauengefängnis bildet sich dann eine Freundinnen-Clique, die über die Haft hinaustragen wird. Das ist sympathisch und schön erzählt. Neugierig macht auch , dass es diese Goliarda Sapienza (1924-1996) wirklich gegeben hat, die sich in der Gesellschaft von Drogenabhängigen, Prostituierten und Anarchisten besser akzeptiert gefühlt hat als in der ausgrenzenden bürgerlichen Gesellschaft. Aber dieser Konflikt mit der angeblichen Normalität ist hier nicht herausgearbeitet, es bleibt nur eine sanft lebensmüde Melancholie.

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Die Geschichte einer unmöglichen Liebe


Aber „Fuori“ war immer noch weitaus besser als der komplett langweilige spanische Beitrag „Romería“: Eine sehr junge Frau sucht nach den Wurzeln ihrer leiblichen Eltern, die um 1990 an Aids gestorben waren - in einer bohèmehaften, von Heroin durchsetzten Aussteigergesellschaft an der spanischen Atlantikküste.

Sie trifft dort ihre Verwandten, die sich alle verschieden an ihre Eltern erinnern und spürt auch die Spannungen in der von den reichen Großeltern dominierten Großfamilie. Das alles ist kombiniert mit Sommer-, Sonne-, Segelboot-Bildern, die über die Dürftigkeit der Geschichte nicht hinwegtäuschen. Und das Suchen und Finden der Identität des Mädchens ist zu klischeehaft und langatmig.

Joachim Trier liefert eine starke Familiengeschichte 

Gleiches galt leider auch für den US-Beitrag: „The History of Sound“ des südafrikanischen Regisseur Oliver Hermanus. Es ist die Geschichte einer Liebe, die sich verliert und deren Verlust das gesamte weitere Leben nicht mehr gelingen lassen will. Es geht um zwei Musikwissenschaftsstudenten, die sich vor dem Ersten Weltkrieg kennenlernen, sich danach auf eine ethnologische Forschungsabenteuerreise begeben, trennen und es heterosexuell bürgerlich versuchen.

Diese tragische Liebesgeschichte ist in schöne US-Landschaften von Kentucky über Giorgia bis Maine gebettet. Und die historische Ausstattung, um die Stadt Boston in den 20er-Jahren zum Leben zu erwecken ist opulent. Aber der Film verliert sich in Lebensstationen, erzeugt keinen emotionalen Sog. Und dann gibt es ja noch den zweiten Inhaltsstrang: den Versuch der beiden, alte amerikanische Folkmusik auf Wachswalzen festzuhalten. Aber dieser Teil ergibt zwar einen schönen Soundtrack, bleibt aber ethnologisch und historisch völlig flach.

In Joachim Triers Film "Sentimental Value" geht es auch um die Beziehung zweier Schwestern, deren lange abwesender Vater nach dem Tod der Mutter zurückkehrt.
In Joachim Triers Film "Sentimental Value" geht es auch um die Beziehung zweier Schwestern, deren lange abwesender Vater nach dem Tod der Mutter zurückkehrt. © Festival du Cannes


So musste Skandinavien das Niveau des Wettbewerbs retten. „Sentimental Value“ des Dänen Joachim Trier hatte alles, was man von einem guten Kinofilm erwartet: Spannung, Tiefe, gute Bilder, dramaturgische Eleganz. Der Film ist norwegisch produziert, spielt in einer alten Bürgervilla in Oslo. Witzigerweise erzählt hier auch das Haus selbst als Zeuge die Beziehung zweier Schwestern, deren Vater die Familien verlassen hat.

Aber als die Mutter stirbt, drängt der lange abwesende Vater, ein bekannter, egozentrischer Filmregisseur, wieder in die Familienstruktur hinein. Er will sogar einen Film im Familienhaus drehen und die ältere Schauspieltochter einbinden, was eine Kettenreaktion an unaufgearbeiteten Emotionen auslöst.

Film im Film, Traumata und ihre Weitergabe über Generationen hinweg, der Kampf um Anerkennung durch den abwesenden Vater, Geschwister-Solidarität, die Frage, ob Familie Hölle oder Halt ist, die Unbedingtheit von Kunst: Das alles verwebt Joachim Trier zu einer großen, sogar oft auch sehr witzigen Tragikomödie.

Jetzt fehlt nur noch, dass der Film am Palmensamstag durch einen hohen Preis an Schubkraft gewinnt, damit man ihn auch bei uns im Kino sehen kann.

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