Boyhood: 12 Jahre Dreh-Echtzeit
Das beste der Berlinale: Richard Linklaters gefeierte Langzeit-Spielfilm-Studie "Boyhood"
Man schminkt sie, besetzt sie mit Verwandten oder ähnlich aussehenden Darstellern. Wenn Filmemacher vom Erwachsenwerden erzählen, und heftige Zeitsprünge mit einbauen, haben sie ein Problem. Es sei denn, sie heißen Richard Linklater. Bereits in der grandiosen „Before"-Trilogie setzte er sich alle neun Jahre gemeinsam mit dem Schauspielpaar Julie Delpy und Ethan Hawke hin, um von der Wandlung ihrer Beziehung über die Zeit zu erzählen.
Ovationen und Bären-Chancen
In „Boyhood", dem mit Abstand bezauberndsten und mit Ovationen gefeierten Berlinale-Wettbewerbsbeitrag, reist er zurück in die Kindheit, um eine der ungewöhnlichsten Coming-of-Age-Geschichten der Kinogeschichte zu erzählen. 12 Jahre eines Jungen (Ellar Coltrane), vom Erstklässler zum College-Anfänger, gedreht mit den gleichen Schauspieler von 2002 bis 2013 an ungefähr drei Tagen im Jahr. Ein irrwitziges Projekt, bei dem Produzenten Schweißausbrüche bekommen. Denn was passiert, wenn einer der Beteiligten keine Lust und keine Zeit mehr hat oder schlimmer - stirbt?
Fantastische kulturell-politische Zeitreise
Glücklicherweise hat alles geklappt, und so wird man Zeuge einer Wandlung vom Videospieler und Harry-Potter-Fan zum in sich gekehrten und über Sinn und Unsinn von Facebook reflektiernden Fotografen, die absolut natürlich wirkt und in niemals langen 165 Minuten auch ein ganz subtiles Porträt der Kriesen gebeutelten US-Mittelklasse liefert. Die Eltern von Mason (Ethan Hawke, Patricia Arquette) sind bereits zu Beginn getrennt. Und während sich seine Mutter als Alleinerziehende immer in die falschen – zu Beginn jovialen und später autoritär-alkoholkranken – Männer verliebt, wandelt sich Masons Vater vom freigeistigen Anti-Bush-Musiker zum Versicherungs-Biedermann, der bald auch noch eine weitere Familie mit evangelikalem Hintergrund gründet. Mit einem Soundtrack von Coldplay bis Daft Punk und ganz subtil am Rande aufgegriffenen Themen wie dem Irak-Krieg, dem Obama-Hype, bis sogar zur NSA-Affäre, gelingt Linklater neben einem brillanten Einblick in die Sorgen und Nöte eines pubertierenden Scheidungskindes auch eine politisch-kulturelle Zeitreise durch die USA, die einen Goldenen Bären verdient hätte.