Auge um Auge um Auge

In seinem stark gespielten Entführungsthriller „Prisoners“ beleuchtet Denis Villeneuve eine US-Gesellschaft zwischen Kleinbürgertum, Waffenlobbyismus und religiöser Doppelmoral
von  Florian Koch

Fettige Haare, klobige Kassengestellbrille, fiese Fistelstimme. Stellt man sich so nicht einen Mädchen-Entführer vor? „Prisoners“ ist kein Film, der Klischees scheut, aber einer, der sich mit seinem kritischen US-Gesellschaftsbild weit weg von konventionellen TV-Krimis bewegt.

Der Einstieg ist noch etwas zäh, wenn Hugh Jackman als Freizeit-Jäger aus dem Off das Vaterunser spricht und seinem Sohn autoritäre Moralpredigten hält. Warum sich der hochtalentierte kanadische Regisseur Denis Villeneuve („Die Frau, die singt“) so viel Zeit lässt, um uns mit diesem muffigen Testosteron-Kleinbürger aus Pennsylvania und seiner strahlenden Vorzeige-Familie warmwerden zu lassen, hat einen perfiden Grund. Denn kurz nach einer Thanksgiving-Feier mit den farbigen Spießer-Nachbarn verschwinden spurlos deren sowie die eigene Tochter und damit auch jeder Frohsinn.

Aus dieser Horrorvorstellung für alle Eltern hätten viele Regisseure einen routinierten „Wer war es“-Thriller gemacht. Nicht so Villeneuve. Er konzentriert sich gerade in der ersten Hälfte seines ungemein intensiven, fast völlig ohne Action auskommenden Krimidramas auf die psychischen Folgen, die so ein Ereignis für alle Beteiligten hat.

Keller (Jackman), dieser selbstsichere Tatmensch mit dem bigotten Auge-um-Auge-Weltbild sucht nach einem Schuldigen, um sich sein eigenes Fehlverhalten nicht eingestehen zu müssen. Den sieht er in Alex (Paul Dano), diesem Burschen mit der Kassengestellbrille und „einem IQ von 10“, weil in der Nähe von Alex’ Wohnmobil die Mädchen zuletzt gesehen wurden.

Spuren für ein Verbrechen findet die Polizei aber nicht. Und so muss der leitende Detective Loki (Jake Gyllenhaal), ein tätowierter Einzelgänger mit zuckenden Augen, aber klarem Blick, den Verdächtigen nach 48 Stunden freilassen und nach weiteren Indizien fahnden. Nicht so Keller. In einer Mischung aus Verzweiflung und unstillbarer Wut kidnappt er Alex, um aus ihm die „Wahrheit“ herauszufoltern.

Wenn Papa das Gesetz gewalttätig in seine eigene Hand nimmt, wird er wie in dem Thriller „Taken“ häufig zum Heros hochstilisiert. „Prisoners“ entgeht der Gefahr, in dem er die Fragwürdigkeit von Kellers Verhalten nie anzweifelt. Aber nicht nur die Selbstjustiz steht in diesem Film, der in seiner düsteren Atmosphäre an „Sieben“ erinnert, am Pranger. Auch die Kirche mit ihrer Doppelmoral, die Waffenlobby mit ihren einfachen Lösungen und das Hochhalten scheinheiliger Familienwerte packt Villeneuve in seine überlange Abrechnung mit der US-Gesellschaft. Das wirkt mitunter etwas aufgesetzt, ist aber stark gespielt und wartet mit einem überraschenden Schluss auf, in dem der Jäger plötzlich zum Gejagten wird.

Kinos: Mathäser, MaxX, Münchner Freiheit, Royal; Cinema, Museumlichtspiele in OF, R: D. Villeneuve (USA, 153Min.)

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