Kritik

Aufrüttelnder Geschichtsfilm "Killers of the Flower Moon": Neues Meisterstück von Martin Scorsese mit Robert De Niro und Leonardo DiCaprio

Martin Scorsese erzählt in "Killers of the Flower Moon" von Gier und Morden an Indianern in den "Goldenen Zwanzigern" und öffnet damit ein lang verschlossenes, dunkles Geschichtsbuch.
Adrian Prechtel
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Wird es eng für den Paten und "netten Onkel" Bill Hale (Robert De Niro)? Immerhin kommt das FBI sogar im Barbershop vorbei und hat ein paar Fragen.
Wird es eng für den Paten und "netten Onkel" Bill Hale (Robert De Niro)? Immerhin kommt das FBI sogar im Barbershop vorbei und hat ein paar Fragen. © PPG

Wie ein Land mit kollektiver Schuld umgeht, bewegt Deutschland bis heute. Natürlich gibt es auch in den USA Bewegungen, die sich mit dem Völkermord an den Indigenen beschäftigen – der überwiegende Teil aber ist Wild West Romantik und Verdrängung.

Nach drei Stunden passiert in "Killers of the Flower Moon" etwas Skurriles. Die zynische Geschichte von geldgierigen Morden an Osage-Indianern vor hundert Jahren ist gerade fertig erzählt, als Regisseur Martin Scorsese selbst ins Bild tritt: als Erzähler bei einer True-Crime-Radio-Show, deren witzige Studiosituation man sieht – mit Zetteln, großen Mikros sowie Geräuschemachern und Sprechern. Sie führen den Massenmord noch einmal expressiv fürs Radiopublikum vor.

In "Killers of the Flower Moon" beschäftigt sich Martin Scorsese mit dem Genozid an den indigenen Amerikanern

Und wer als Kinozuschauer bisher schon erschüttert war, versteht jetzt vollkommen die geschichtliche Ohrfeige, die Scorsese den Amerikanern hier gibt: Denn die monströsen Verbrechen sind schon ein paar Jahre später zum Grusel-Entertainment für die ganze Familie geworden – das war's! Als Nebeneffekt erfährt man hier noch die Nachgeschichte: die Aufarbeitung der Morde durch die Justiz und die verhängten Gefängnisstrafen mit folgenden, auffallend frühen Begnadigungen.

Leonardo Di Caprio, Martin Scorsese and Robert de Niro am Roten Teppich in Cannes bei der Premire von "Killers Of The Flower Moon".
Leonardo Di Caprio, Martin Scorsese and Robert de Niro am Roten Teppich in Cannes bei der Premire von "Killers Of The Flower Moon". © IMAGO/MediaPunch

 

"E pluribus unum" heißt es im Staatswappen der USA, was nichts weiter meint, als die Utopie, dass in diesem Staat die verschiedensten Gruppen zu einem Ganzen verschmelzen. Diesen Mythos vom friedlichen, prosperierenden "Melting Pot" hat Scorsese nicht nur im Einwanderer-Bürgerkriegsfilm "Gangs of New York" (2002) angeschlagen. Und in "Killers of the Flower Moon" arbeitet er jetzt einen Teil des Genozids an den indigenen Amerikanern ab. Wir sind hier bereits im 20. Jahrhundert, in den 20er Jahren.

Schon vor Jahrzehnten hatte man die überlebenden Indigenen in die karge Ödnis von Reservaten gepfercht. Nur wurden "leider" ausgerechnet hier in Oklahoma Ölvorkommen entdeckt. Ein Märchen hätte wahr werden können: Öl machte die Osage zeitweise zum reichsten Volk der Erde, weil der Stamm die Gewinne aus den Schürfrechten nicht kapitalistisch, sondern sozialistisch auf alle Köpfe verteilte. Das wiederum setzte eine unfassbare kriminelle und grausame Energie in der weißen Umgebung frei, um durch Adoption, Vormundschaften, Erbschaft und Mord an den Reichtum der "Roten" zu kommen.

Bemitleidenswerter Leonardo DiCaprio, gieriger Robert De Niro 

 

Leonardo DiCaprio spielt dabei einen in jeder Beziehung etwas minderbemittelten Weißen, der von seinem Onkel strategisch mit einer Osage-Frau verheiratet wird. Überhaupt benutzt dieser Rancher Bill Hale (den es unfassbarerweise so wirklich gab) seinen Neffen als nützlichen Idioten, um mörderisch, aber unbemerkt all den Indianerbesitz in weiße, vor allem aber in seine eigenen Hände zu bringen.

Das alleine wäre schon schauderhaft genug, aber dieser Hale ist für alle ein nach außen vermeintlicher Indianerfreund, Mentor und gesetzlicher Vertreter vieler Osage, die durch rassistische Gesetzte zur Unmündigkeit verdammt sind.

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De Niro – oft in seinen späten Rollen etwas gelangweilt – muss hier als Bill Hale Großes leisten: Der nette Paten-Onkel hinter dessen empathischer, jovialer Fassade ein gieriges, kapitalistisches, egozentrisches Monster steckt, für ihn wäre noch Wolf im Schafspelz eine viel zu nette Beschreibung. Und DiCaprio gerät so stark in die Mühlen des Verbrechens, obwohl er seine Indianerfrau liebt, und ist so eine psychisch manipulierbare Figur, dass man fast Mitleid mit ihm bekommt, sogar noch, als er beginnt – auftragsgemäß –, seine Frau zu vergiften, um zu erben.

"Killers of the Flower Moon" von Martin Scorsese rüttelt auf und funktioniert emotional

Das alles ist so zynisch, dass man ununterbrochen schaudert. "Killers of the Flower Moon" ein handwerklich guter, schön altmodisch gemachter Film, der auch mit dem Flair der gerade so angesagten 20er-Jahren spielt und dabei Western und Krimi und aufrüttelnden Geschichtsfilm mischt. Aber Scorseses Meisterschaft besteht darin, dass der Film emotional funktioniert, obwohl die beiden weißen Hauptfiguren Mörder sind. Sie faszinieren in ihrer charakterlichen Spanne aus fast sanftem Mitläufer und gierigem Machiavellisten, aber haben dabei – Gott sei dank – nie unsere Sympathie.

Die hat natürlich Mollie, die Osage-Frau, an deren Geld die anderen kommen wollen. Lily Gladstone gibt ihr noch in ihrer Zerstörung durch die Weißen, ihrer sanften Drogenabhängigkeit und liebenswürdigen Naivität – oder ist es trotz Wissens um die Verbrechen um sie herum Fatalismus? - eine große, warme Würde.

Lily Gladstone spielt Mollie, die indigene Osage, deren Mann (Leonado DiCaprio) ein brutales Doppelspiel betreibt.
Lily Gladstone spielt Mollie, die indigene Osage, deren Mann (Leonado DiCaprio) ein brutales Doppelspiel betreibt. © PPG

Ganz am Ende sieht man noch aus der Drohnenperspektive ein heutiges Trommel-Tanz-Ritual der Osage. Es wirkt ein bisschen wie eine Beruhigungspille für uns Zuschauer, die es eigentlich gar nicht geben sollte. Aber Scorsese ist eben auch ein Humanist, der an uns sensible Zuschauer denkt, auch wenn er als sympathischer alter weißer Mann ein grandioser Aufklärer bleibt.


Kino: Leopold, Royal (dt.), City, Rio (auch OmU) sowie Arri, Gloria, Mathäser (auch OV), Monopol (OmU), Cinema, Museum (OV)
R: Martin Scorsese (USA, 200 Min.)

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