Anime-Filmkunst: "Der Junge und der Reiher"
Der Graureiher hat keinen guten Ruf. Als brutal effektiver Fischdieb gilt er nicht nur bei empfindlichen Teichbesitzern. Und ja, der hypnotisch stechende Blick dieses imposanten, fast storchengroßen Vogels kann genau wie seine eiskalte Ruhe bei der Jagd einschüchternd wirken. In "Der Junge und der Reiher" ist diese bedrohlich-unangenehme Reiher-Aura durchaus präsent, doch offenbaren sich auch andere, fantastischere Facetten.
Die Hauptfigur ist autobiografisch
Sieben Jahre hat Hayao Miyazaki an seinem Anime-Vermächtnis gearbeitet. Herausgekommen ist ein 2D-Trickfilm-Wunder mit eigener Handschrift, dass sich mit seiner poetischen Verschmelzung von Realität und Traum nahtlos in das Œuvre des Schöpfers von oscargekrönten Filmen wie "Chihiros Reise ins Zauberland" einfügt. Inspiriert ist der Film von Miyazakis Lieblingskinderbuch "Wie willst du leben?" von Genzaburo Yoshino. Ein Werk, das auch seine autobiografisch angelegte Hauptfigur Mahito begleitet.
Der elfjährige Junge muss den Tod seiner Mutter verkraften, die während des Pazifikkrieges im Jahr 1943 bei einem Luftangriff auf Tokio in einem Krankenhaus ums Leben kommt. Glimmend umherschwirrende Papierfetzen illustrieren diesen radikalen Einschnitt im Leben des Kindes. Ein Trauma, das sich noch verhärtet, als der Vater, ein vermögender Leiter einer Munitionsfabrik, mit Mahito aufs Land zieht. Der strenge Unternehmer heiratet in der Abgeschiedenheit erneut - und zwar ausgerechnet die jüngere und bald schwangere Schwester von Mahitos Mutter.
Miyazaki hat eine humanistische Erzählhaltung
Den Schmerz des Jungen, seine Entfremdung, sein Selbsthass skizziert der Film mit wenigen Worten, aber mit kunstvoll symbolträchtigen Bildkompositionen. Herausreißen aus seiner Lethargie und die nur im Innern verborgene Wut wird Mahito der besagte Reiher. Wie ein Türöffner, gleich dem Kaninchen von "Alice im Wunderland", setzt Miyazaki diesen unergründlichen Vogel ein. Zu einem magischen Turm geleitet das sprechende Mischwesen Mahito. Die verloren geglaubte Mutter, sie könne er hier wiederfinden. Und wenn der verzweifelte Junge dieser Hoffnung nachgeht, dabei auf geheimnisvolle Geschöpfe wie fleischfressende Sittiche oder sich in Wasser verwandelnde Trugbilder trifft, dann gehorcht dieser verwunschene Film nur noch seiner ganz eigenen Logik. Im Rausch der Bilder geht die filmische Essenz - Mahitos Sehnsucht nach Geborgenheit, inneren Frieden und letztlich einem, seinem Platz im Leben - jedoch nie verloren. Auch bewahrt sich Miyazaki selbst im Angesicht des Todes eine humanistisch geprägte, nie vorverurteilende Erzählhaltung.
Und vielleicht ist es gerade diese universelle wie tröstliche Gesinnung, die sein neuestes Werk auch weit außerhalb Japans so populär und auch zu einem sicheren Oscaranwärter macht.
Kino: Sendlinger Tor sowie Mathäser, City, Leopold, Monopol (auch OmU) und ABC, Cinema, Gloria (OmU)
R: Hayao Miyazaki (J, 124 Min.)
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