Karneval der Aufmerksamkeit

Auf der Buchmesse in Frankfurt stürzen sich Kamerateams wieder auf die allseits bekannten Promigesichter – echte Bestsellerautoren dagegen können entspannt flanieren
Volker Isfort |
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Die Hängematten sind immer belegt. Im Pavillon des Gastlandes Brasilien kann man sich unter der subtropischen Sonne der Scheinwerfer erholen vom Buchmessenrummel, Samba hören und lesen, oder mit Muskelantrieb auf dem Fahrrad Videos in Bewegung setzen. Das Land präsentiert sich mit viel Aufwand und 70 mitgebrachten Autoren. Auf die Messebusse aber hat der Schweizer Verlag Diogenes den Millionenseller Paulo Coelho geklebt. Jener Mann,der zwar nicht in Frankfurt weilt, aber auch nach der Messe der mit Abstand populärste brasilianische Schriftsteller bleiben wird.

Mit seiner Qualität hat das nur bedingt zu tun, wohl aber mit einem Grundproblem der Branche, das Michael Krüger auf seiner letzten Messe als Chef des Hanser Verlages so treffend formuliert: „Das Problem ist, dass die meisten Menschen schlechte Bücher lieben.“ Da können sich die Qualitätsverleger und literarisch ambitionierten Autoren noch so abstrampeln, das Lesevolk wuchtet Boris Becker auf Platz 2 der aktuellen Verkaufsliste (Sachbuch), mit seinem uncharmanten Einblick in die mangelnden Kochkünste seiner Ex-Lebensgefährtinnen.

Gleich von fünf Bodyguards lässt sich Becker durch die engen Messegänge bugsieren, wahre Stars des Betriebs haben diesen Karneval der Aufmerksamkeit nicht nötig. Jussi Adler-Olsen schlendert über die Freifläche zwischen den Hallen, wo ein temporärer „Walk of Fame“ natürlich auch seinen Namen verzeichnet. Er posiert lachend für die Besucher, signiert Bücher, spricht von Frankfurt als einem „Familienbesuch“ und verliert nur kurz seine Bestsellerlaune, als ein Journalist ihn nach seiner Meinung zu seiner neuen Krimiverfilmung fragt. 400 000 Exemplare von seinem Thriller „Erwartung“ hat er bei den nach ihm verrückten Deutschen im letzten Monat abgesetzt, das sind die seltenen Erfolgsgeschichten, von der die meisten der rund 1500 Autoren nur träumen können.

Ein bisschen verwundert über seinen Erfolg sitzt der holländische Autor Herman Koch im Frankfurter Hof. Eigentlich war er Komiker, bevor er ein Unterhaltungsschriftsteller wurde. Plötzlich stand ein Buch von ihm auf der „New York Times“-Bestsellerliste. Jetzt will Schauspielerin Cate Blanchett ein Buch von ihm verfilmen. „Unglaublich“, sagt der bescheidene Koch. „Die Frankfurter Messe ist für mich das Ikea der Bücher“, da fühlt sich selbst ein Mann verloren in der Bücherwelt, der von seinem aktuellen Roman „Odessa Star“ 600 000 Exemplare allein in Holland absetzen konnte. So etwas gelang in den vergangenen Jahren bei uns nur Timor Vermes mit der Hitler-Satire „Er ist wieder da“.

Die Botschaft ist eigentlich klar: Das Publikum möchte (auch) Unterhaltung, die Kritiker und Jurys loben hierzulande lieber möglichst verkopfte Literatur: Wer sich durch die Shortlist für den Deutschen Buchpreis gearbeitet hat, wird aber feststellen, dass solch sprachlich manieriertes Sedativum nicht taugt für Liebesgeschichten zwischen Buch und Leser. Da ist die einhellig begrüßte Nobelpreisträgerin Alice Munro ein ganz anderes Kaliber: Man kann tiefschürfend über alles Menschliche schreiben, ohne die Literatur als Experiment und Strafe zu verstehen.

In der unbarmherzigen Währung der Aufmerksamkeit haben in Frankfurt ohnehin andere die Nase vorn: Die Kamerateams stürzen sich auf alle Motive, die schon bekannt sind: Die „WDR-Maus“, die durch die Flure hüpft, Wolfgang Joop, unzählige C-Promis. Selbst die „DFB-Kulturstiftung Theo Zwanziger“, die wirklich so heißt, ist beim Thema Brasilien aufgesprungen und veranstaltet 18 (!) Podiumsdiskussionen mit Fußballrhetorikern von Reiner Calmund über Rudi Völler bis zu Jimmy Hartwig.

Die Trivialisierung der Messe hat Folgen: Abends stehen eher literaturferne Mädchen in Silberplateaustiefeln vor den Toren und verteilen Reklamekärtchen für „Saunaclubs“. Aber die Buchmesse ist nicht die Bauma, die Menschen vergnügen sich doch lieber auf den Partys der Verlage, wo bei viel Wein und noch mehr Smalltalk ein wirrer Messetag erst seine narrative Form erhält. Oder wie es der „Titanic“-Autor Oliver Maria Schmitt zusammenfasste: „Brasilien ist wie die Buchmesse: unübersichtlich, versoffen und für Außenstehende ein einziges jammerndes Chaos.“

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