Kritik

Kammerspiele Saisonstart: "Im Menschen muss alles herrlich sein"

Jan Bosse bringt den Roman von Sasha Marianna Salzmann auf die große Bühne
von  Anne Fritsch
"Im Menschen muss alles herrlich sein" mit Wiebke Puls (Mitte) und Edith Saldanha (rechts).
"Im Menschen muss alles herrlich sein" mit Wiebke Puls (Mitte) und Edith Saldanha (rechts). © Armin Smailovic

Zwei junge Frauen treten auf die Vorderbühne, Edi und Nina. Die eine mit einer blond-schwarzen Lockenfrisur, die immer wieder als "Färbeunfall" abgetan werden wird. Die andere wie eine spacige Neuinterpretation der Prinzessin Lea aus Star Wars. Edith Saldanha und Maren Solty sind die Töchter, die über ihre Mütter und ihre Familien sprechen. Über diese osteuropäische Sippschaft, von der sie sich freimachen wollen und die sie doch fest in ihrem Griff hält.

"Die ganze Zeit versuche ich, von hier loszukommen, abzuhauen, und dann lande ich doch wieder hier… bei euch", bringt Saldanha alias Edi es auf den Punkt. Dann hebt sich der Eiserne Vorhang, der hier zum Sinnbild wird: Die beiden blicken zurück in die Welt ihrer Eltern, die hinter dem Eisernen Vorhang lag, in der ehemaligen Sowjetunion.


"Im Menschen muss alles herrlich sein - das Gesicht, die Kleidung, die Seele und das, was er denkt." Dieses Zitat aus Anton Tschechows "Onkel Wanja" hat Sasha Marianna Salzmann zum Titel ihres 2022 erschienenen Romans inspiriert. "Im Menschen muss alles herrlich sein" spürt dem Zusammenbruch eines politischen Systems nach, den Auswirkungen der Entwicklungen auf das Leben der Menschen. Salzmann arbeitet sich in ihrem Roman chronologisch durch die Geschichte einer Familie und einer Gesellschaft im Umbruch, von den 70er Jahren bis 2015.

Sie erzählt von Generationen, die einander fremd geworden sind, weil die Welten, in denen sie aufgewachsen sind, die sie geprägt haben, komplett unterschiedliche sind. Eine junge Generation, geboren und geprägt in Deutschland, die sich selbst verwirklichen will, trifft auf eine, der als Jungpioniere eingeschärft wurde: "Ich ist der letzte Buchstabe im Alphabet."


Nun haben der Regisseur Jan Bosse und die Dramaturgin Viola Hasselberg den beinahe 400-Seiten-Roman in eine Theaterfassung verdichtet, die als erste große Produktion die Spielzeit an den Münchner Kammerspielen eröffnete. Anders als der Roman gehen die beiden nicht chronologisch vor, sondern lassen die Jungen rückblickend auf die Leben der Älteren schauen, erzählen die Vergangenheit auf der Folie der Gegenwart. Einer Gegenwart, in der sich zwischen den Töchtern Edi und Nina und ihren Müttern Lena und Tatjana eine Sprachlosigkeit breitgemacht hat, in der jede Begegnung zu einem "Reigen von wechselseitigen Enttäuschungen" wird.

In einem düsteren Wirtsraum, der mit seinen hohen Wandvertäfelungen und seiner melancholischen Heimeligkeit an die Bühnenräume erinnert, die Anna Viebrock immer wieder für Christoph Marthaler schuf, treffen die Vereinzelten aufeinander. Bühnenbildner Stéphane Laimé hat einen Multifunktionsraum geschaffen, in dem man trefflich aneinander vorbei leben und reden kann. Das Sprossenfenster aus Eisplatten im Hintergrund schmilzt langsam im politischen Tauwetter, den ganzen Abend tropft es, die Löcher werden immer größer, immer mehr Brocken fallen heraus. Ein schönes Bild für die allmähliche Auflösung eines Systems.

Die Jungen schauen von außen auf eine Gesellschaft, deren vorherrschendes Lebensgefühl noch immer das Überleben ist. "Ich habe doch nicht all das überlebt, um jetzt vor die Hunde zu gehen…", bringt die Großmutter den trotzigen Widerstandsgeist dieser Gestrandeten auf den Punkt, die Edi nur als "Perestroika-Zombies" bezeichnet, die irgendwie feststecken in einer "Zwischenzeit" - zwischen zusammengebrochener Vergangenheit, nicht erfüllter Hoffnungen und noch nicht begonnener Zukunft.


Bosse schneidet vieles an, kratzt ob der Fülle an Themen, Figuren und Konflikten hie und da aber nur an der Oberfläche, dringt nicht immer in die Tiefe des Romans ein. Er springt durch Raum und Zeit, und das wunderbar gelaunte Ensemble springt mit. Allen voran Wiebke Puls! Wie schön, diese große Schauspielerin wieder ganz in ihrem Element zu sehen. Wie sie diese Lena in ihrer Entwicklung zeigt, als junge Pionierin, als angehende Ärztin, als Liebende und Lebende. Wie sie mit ihrem Geliebten (Martin Weigel) "Der Traum ist aus" von Ton Steine Scherben singt. Wie sie für ihre Träume kämpft, denen ihrer Tochter aber mit Verachtung begegnet. Wie Edmund Telgenkämper den pilzvernarrten Großvater spielt, ist ebenso großartig. Auch Svetlana Belesova zeigt sich wandlungsfähig, ist mal jugendliche Freundin im Pionierlager, dann die energiegeladene Cousine, die nicht akzeptieren will, dass für sie nur ein Pool voll Scheiße vorgesehen sein soll, während Amerikaner in beleuchteten Luxuspools baden. Sie will sich verwirklichen, jedem System zum Trotz.

Der aktuelle Ukraine-Krieg ist hier noch nicht ausgebrochen, die Krim aber bereits besetzt, der bewaffnete Konflikt im Donbas schon Realität.

Wir sehen diese Geschichte im Jahr 2023. Wir wissen, dass im Menschen nicht alles herrlich ist, weil auch außerhalb von ihm vieles im Argen liegt. Vor allem davon erzählt der Roman und dieser Theaterabend. Nach drei Stunden entlassen die Kammerspiele ihr Publikum mit Sekt und Lebkuchenherzen in die Nacht. Ein Saisonstart mit großem Stoff und großem Ensemble. Barbara Mundel und ihr Team scheinen es ernst zu meinen mit der Kehrtwende hin zur Stadt und dem Publikum.

wieder am Freitag, 6. Oktober, dann 8., 20., 25., 30. Oktober und weiter im November

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