Kalter Krieg gegen die soziale Marktwirtschaft

Frank Schirrmacher zeigt in seinem Buch, wie die Ökonomie unmenschlich wurde
Volker Isfort |
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Frank Schirrmacher zeigt in seinem Buch, wie die Ökonomie unmenschlich wurde

Mit Büchern über den entfesselten Weltfinanzirrsinn lassen sich inzwischen ganze Bibliotheken füllen. Insofern ist „FAZ“-Feuilleton-Herausgeber Frank Schirrmacher ausnahmsweise nicht ganz vorn dabei, wenn er nun mit seinem neuen Debatten-Buch „Ego – Das Spiel des Lebens“ seine Überlegungen zum Kapitalismus publiziert.

Dennoch ist der Respekt vor dem Autor von „Das Methusalem-Komplott“ so gewaltig, dass nicht nur der „Focus“ schon Stimmen gegen Schirrmachers Thesen sammelte, bevor die Gefragten überhaupt einen Einblick ins Werk nehmen konnten.

Der moderne „homo oeconomicus“ sei ein Popanz, sagt der Philosoph Peter Sloterdijk dem „Focus“. Die Zeit gehöre längst wieder dem Nachdenken über Eigenschaften wie Empathie, Kooperation, Generosität und andere Bürgertugenden. Richard David Precht sieht zwar auch derzeit eine Radikalisierung der Arbeitswelt mit immer höheren Belastungen. Es gebe aber eine starke Gegenbewegung. „Für viele ist es zum Lebensideal geworden, Zeit zu haben, mit den Kindern zu spielen, mit Freunden Kaffee zu trinken“, sagt der TV-Philosoph und Bestsellerautor ebenfalls im „Focus“.

Das ist beides nachvollziehbar, mit Schirrmachers Buch aber haben beide Aussagen nichts zu tun. Über die ersten 200 Seiten weist der Autor nach, wie die Strategie des Kalten Krieges im Laufe der Jahrzehnte in die Finanzwelt einzog. Grob vereinfachend gesagt: Den von amerikanischen Wissenschaftlern im Kalten Krieg entwickelten Rechenmodellen für militärische Reaktionen liegt die Spieltheorie zu Grunde. Dabei wird von der Gegenseite immer der Zug angenommen, der dem Gegenüber den größten Vorteil bringt. Verständnis, Kooperation oder Einsicht in ein Fehlverhalten, schlichtweg alles, was menschliche Kommunikation und Diplomatie ausmachen könnte, ist dabei nicht vorgesehen. Denn programmiert wird nur das ökonomische Prinzip des Egoismus.

Der Zusammenbruch der Sowjetunion stoppte diese Strategie keineswegs: „Der Kalte Krieg ist aber nicht vorbei, nur das Theatre of War, der Kriegsschauplatz hat gewechselt“, schreibt Schirrmacher. Die Physiker eroberten ganze Abteilungen in den großen US-Bankhäusern und verfeinerten ihre Strategien, der Kriegsschauplatz war (ist) nun die globale Finanzwelt mit den bekannten Folgen: Computer, die Transaktionen in Nanosekunden abwickeln, automatisierte Märkte.

„Diese algorithmische Tragödie des Gemeinwohls, in dem alle Spieler, konsequent nur in ihrem eigenen Interesse handelnd einen systematisch lebensgefährlichen Markt hervorbrachten, hatte die Welt an den Rand des Systemversagens geführt“, schreibt Schirrmacher. Kein Wunder, dass das Katastrophenvokabular wie „Kernschmelze“ oder „finanzielle Massenvernichtungswaffen“ noch die Nähe zum Kalten Krieg verrät. Haben aber die Ökonomen wirklich „die menschliche Seele tiefgreifender verändert als jede Psychologie“, wie Schirrmacher raunt? Oder gehört der leicht hysterische Ton seines Buches auch zu den Gesetzen des Marktes?

Ganz allein mit den Monstern der Finanzwelt lässt der Autor den zum homo oeconomicus degradierten Leser nicht und entzündet ein Lichtlein der Hoffnung. Es geht darum, den Märkten die Gesetze der Menschen aufzuzwingen und nicht die Demokratie „marktkonform“ zu gestalten, wie es Bundeskanzlerin Angela Merkel nannte. Es mag sein, dass heute (markt)entscheidend ist, wer die Sensoren und Algorithmen kontrolliert. Und die Beeinflussung beginnt täglich bei jedem persönlich. Frank Schirrmacher hat mit seinem Buch zumindest einen Anstoß geliefert, das Leben nicht kampflos Google, Facebook und den freundlichen Empfehlungen des Internets zu überlassen.

Frank Schirrmacher: „Ego – Das Spiel des Lebens“ (Blessing, 352 Seiten, 19.99 Euro)

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