Jugend sucht Anschluss
Oh Gott, es funktioniert doch! Dennis Gansels Verfilmung von »Die Welle« zeigt, wie alle menschlichen und sozialen Grenzen weggespült werden.
„Nee! Nich’ schon wieder Hitler!“, schallt es Lehrern entgegen. Und vielleicht stimmt es ja. Wir Deutschen haben mit unserer Vergangenheit letztlich doch aufgeräumt und die Schule mit Geschichte, Deutsch und Sozialkunde zum antifaschistischen Schutzwall gemacht. Oder? 1967 führte der Geschichtslehrer Ron Jones an einer kalifornischen High School ein Experiment durch, als die Frage aufkam: „Wie konnten die Deutschen sowas machen?“ Jones uniformierte, disziplinierte und formte die Bewegung „Die Dritte Welle“.
Schon nach fünf Tagen musste das Experiment wegen Übergriffen auf Andersdenkende und Bespitzelung von Mitgliedern abgebrochen werden. 1981 hat Morton Rhue daraus den Schullektüre-Bestseller „Die Welle“ gemacht. Der deutsche Regisseur Dennis Gansel hat basierend auf dieser Vorlage einen Film gedreht, der weit besser und durchschlagender ist als das Buch.
Denn „Die Welle“ spielt im Hier und Jetzt einer deutschen Schule. Das irritierend Faszinierende ist: Gerade heute, mit Jugendlichen, die nur Demokratie kennen, frei erzogen wurden und auf einem individualistischen Spaßtrip sind, scheint das Experiment besonders gut zu funktionieren. Protagonist ist Jürgen Vogel als ein alternativer, eher linker Lehrer, der die Projektgruppe „Anarchie“ leiten wollte, aber „Autokratie“ zugeteilt bekommt – und den Unterricht zum faschistischen „Wellen“-Experiment ausbaut. Er ist, auch physiognomisch, ein Mussolini-Typ.
Gansel hat in „Napola – Elite für den Führer“ die Abgründe faschistischer Erziehung ausgelotet. Es ist die Stärke seines neuen Films, dass er die Anfälligkeit für totalitäre Gruppendynamik aus dem normalen Jugendalltag ableitet, inklusive dem Marken-Klamotten-Konsumterror, der Haltlosigkeit wohlhabender Bürgersöhnchen und politischen Ohnmachtsgefühlen. Gansel führt manchmal lehrbuchartig vor, wie es zur Eskalation kommen kann. Aber gerade darin liegt der makabre Witz: Wenn der Geschichts- und Sportlehrer es von Schulstunde zu Schulstunde wie ein Schachspieler auf Gleichschaltung anlegt – und gewinnt. Bis sein ebenfalls selbstgefälliges Führer-Experiment außer Kontrolle gerät.
Am Ende erinnert man sich an den Satz, den Vogel als Lehrer am Anfang setzte: „Ihr seid also der Meinung, dass ’ne Diktatur heute in Deutschland nicht mehr möglich wäre?“ Da ist man sich nach „Die Welle“ nicht mehr ganz so sicher. So natürlich hat sie alle menschlichen und sozialen Grenzen weggespült. Adrian Prechtel
Kino: Atelier, Leopold, Mathäser MaxX, Münchner Freiheit, Rio
R: Dennis Gansel B: Dennis Gansel und Peter Thorwarth frei nach M. Rhue „Die Welle“ (D, 100 Min.)