Jonathan Franzens Roman: Familie aus den Fugen
„Freiheit“ – in seinem neuen Roman erzählt sich Jonathan Franzen durch vier Dekaden und verfolgt seine linksliberalen Protagonisten bis in das Obama-Amerika unserer Tage
Neun Jahre nach „The Corrections“ („Die Korrekturen“) ist – begleitet von einem unerhörten Mediengetöse inklusive „Time“-Titelgeschichte und präsidialem Bonus – in den USA mit „Freedom“ wieder ein dicker Roman des Starautors Jonathan Franzen erschienen. So banal der Titel, so euphorisch die Kritiken. Da will der deutsche Verlag nicht hinten anstehen. Gerade sieben Tage später kommt die von Bettina Abarbanell und Eike Schönfeld flugs angefertigte deutsche Fassung in einer Auflage von 100000 Exemplaren in die Buchhandlungen: „Freiheit“.
Ähnlich wie Weinliebhaber dem neuen Jahrgang ihrer Lieblingstraube, gieren Franzen-Fans dem neuen Wurf entgegen: Sie wollen den Kern wiedererkennen, aber auch Neues entdecken. Dabei überrascht, wie sich der kinderlose Franzen, der nach einer gescheiterten Ehe heute mit der Schriftstellerin Kathryn Chetkovich in New York zusammenlebt, zum Fachmann für Familienfragen gemausert hat. Die Erklärung gab es in einem Interview: „Freiheit“, so Franzen, resultiere aus der Aufarbeitung der Beziehung zu seinen Eltern und sei somit sein autobiografischstes Buch.
Am Ende: Die Jetzt-Zeit
Wie die „Korrekturen“ ist auch diese Geschichte im Mittleren Westen angesiedelt – diesmal in der realen Stadt St. Paul anstelle des fiktionalen St. Jude. Der Ort scheint bewusst gewählt: Die Hauptstadt des US-Bundesstaates Minnesota an der Grenze zu Kanada ist der Geburtsort des Autors F. Scott Fitzgerald und des amtierenden griechischen Ministerpräsidenten Giorgos Papandreou – und Sitz des weltweit operierenden Multi-Technologieunternehmens 3M. Alkohol, Finanzprobleme und globale Verstrickungen bilden auch den Hintergrund für die Geschichte einer Familie in der Krise, die der 51-Jährige im Gewand einer Tragikomödie darbietet. Dabei beackert er die Themenspanne zwischen Unterleib und Umweltschutz, Bevölkerungsexplosion und Rüstungsgeschäft, propagiert die Freiheit der Vögel und des Vögelns.
Diesmal heißen die Hauptpersonen Patty und Walter Berglund (statt Enid und Alfred Lambert), und sie haben nur zwei Kinder (anstelle von drei, wie die Lamberts). Ihr Leben in der viktorianischen Villa am Stadtrand gerät aus den Fugen, als einer nach dem anderen den links-liberalen Kokon verlässt: Der durch und durch grüne Anwalt Walter lässt sich als Umweltunternehmer auf einen faustischen Pakt mit der Ölindustrie ein, Patty, früher eine talententierte Basketballspielerin, entdeckt nach einer Affäre mit Walters bestem Freund, dem Rockmusiker Richard Katz, einen ungesunden Sport: das Trinken. Der halbwüchsige Sohn Joey zieht (wegen leicht zu bekommendem Sex) bei der erzkonservativen Familie nebenan ein. Nur das etwas blass geratene Nesthäkchen Jessica bleibt dem Heim treu.
Nach vier verschlungen erzählten Dekaden landen wir am Schluss in der Jetzt-Zeit. Barack Obama regiert das Land, und Walter hat einen Sympathie-Sticker für den neuen Präsidenten auf sein japanisches Hybridauto geklebt, während seine Nachbarn unter der Rezession der Wirtschaft ächzen. Doch ihn interessiert nur der Schutz der Vögel. Und so zieht er – „ein missionarisches Zittern in der Stimme und ein fanatischer grauer Stoppelbart auf den Wangen“ – von Haus zu Haus und versucht, seinen Nachbarn grell leuchtende Neopren-Umhänge für deren Katzen aufzuschwatzen. Als die dem ökologischen Miesepeter die Stirn bieten, greift der von Natur aus friedliche Walter – fast will man sagen: endlich – zu militanten Methoden.
Acht Jahre Kampf gegen die Schreibblockade
Wenn Kritiker Charles Dickes und Leo Tolstoi zum Vergleich heranziehen, macht das noch einmal deutlich, wie Franzen seine Geschichte erzählt: traditionell, voller Leidenschaft, mit Liebe zum Detail und zur Ausführlichkeit. Damit ist er kein Erneuerer der Literatur, der durch spektakuläre Erzähltechniken auffällt wie etwa sein 2008 freiwillig aus dem Leben geschiedener Freund David Foster Wallace. Franzen hat selbst gesagt: „Ich gehöre nicht zu den Autoren, die sich mehr für die Form als für den Inhalt interessieren.“ Die reine Niederschrift dauerte übrigens nur ein Jahr – die anderen acht Jahre waren Kampf gegen die Schreibblockade.
Es sei dahingestellt, ob es Franzen mit „Freiheit“ gelungen ist, „die amerikanische Seele im Rahmen eines Romans zu malen“, wie es John William De Forest vor 142 Jahren als Bedingung für die Great American Novel formulierte, oder ob dies gar der „Roman des Jahrzehnts“ ist, wie es der britische „Guardian“ posaunte. Eines ist dem Hobby-Ornithologen in jedem Fall gelungen: Er hat dem blau-grau gefiederten Dendroica cerulea (Pappel-Waldsänger) zu internationaler Bekanntheit verholfen.
Reinhard Helling
„Freiheit“ (Rowohlt, 733 Seiten, 24.95 Euro). Am 11. Oktober liest Franzen in der Großen Aula der LMU