John Irving über den Tod von Günter Grass

Zum Tod von Literaturnobelpreisträger Günter Grass schreibt sein enger Freund John Irving einen "unbeantworteten Brief".
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Ein unbeantworteter Brief

Deutsch von Hans M. Herzog

Auf meinem Schreibtisch in Toronto liegt ein unbeantworteter Brief von Günter Grass, aufgegeben am 23. März 2015 in Lübeck. Ich bedauere, dass ich ihn vor seinem Tod nicht mehr beantwortet habe. Er schrieb, sein Alter setze ihm schwer zu, doch er beklage sich nicht; er fuhr fort, sein Herz und seine Lunge "zahlten ihm heim", was er ihnen angetan habe - durch "emsiges Rauchen". Er war dankbar dafür, dass sein Hirn noch ordentlich funktionierte - dass er "immer noch klar im Kopf" war, wie er es formulierte, und er ergänzte: "besser als umgekehrt".

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Im letzten Absatz findet sich ein düsterer Satz: "Die Welt ist wieder einmal aus den Fugen und mir, dem kriegsgebrannten Kind, kommen böse Erinnerungen."

Als ich Die Blechtrommel las, war ich neunzehn oder zwanzig. Davor hatte ich nicht gewusst, dass man zeitgenössischer Romanschriftsteller und zugleich ein Erzähler des 19. Jahrhunderts sein konnte. Oskar Matzerath weigert sich zu wachsen; weil er klein und kindhaft bleibt, wird er in der Nazizeit verschont - er überlebt den Krieg, doch der Schuld entkommt er nicht.

Als ich in Wien studierte, bewarb ich mich als Modell für Aktzeichenkurse an der Kunstakademie in der Nähe der Ringstraße. Ich behauptete, ich hätte "Erfahrung", doch ich wollte Modell werden, weil Oskar Matzerath eins war.

Im Juli 2007 besprach ich für die New York Times Book Review Grass' umstrittene Autobiographie Beim Häuten der Zwiebel. Grass' Bekenntnis - nämlich dass er als Siebzehnjähriger in die Waffen-SS eingezogen wurde - empörte seine Kritiker. Einer nannte die Enthüllung "aufgesetzt", andere beklagten, das Eingeständnis sei zu spät erfolgt. In der New York Times Book Review nannte ich diese Kritiken eine "scheinheilige Demontage". Die Preisgabe seiner Waffen-SSMitgliedschaft war Grass' Geschichte; er schrieb darüber mit einem "immer wiederkehrenden Schamgefühl". Sollte er etwa gegenüber Journalisten seine Schuld ausplaudern? Dann hätten diese Journalisten, ihrem Herdentrieb folgend, seine Geschichte niedergeschrieben. Niemand hätte über Grass' Scham besser schreiben können als er selbst. Seine Autiobiographie ist "allen gewidmet, von denen ich lernte".

Von meinen Lieblingsautoren des 19. Jahrhunderts lernte ich, dass ich eine bestimmt Art von Romanschriftsteller sein wollte - so wie Dickens und Hardy, wie Hawthorne und Melville. Von Grass lernte ich, wie man das macht.

Eines Abends in seinem Haus in Behlendorf - und zwar im Oktober 1995, mein Sohn Everett war erst vier - hatte Günters Frau Ute einen Lammbraten gemacht, und Günter sang Everett, dessen Deutsch sich auf ein paar Farben und die Zahlen von

eins bis fünf beschränkte, ein englisches Lied vor. "One man and his dog went to mow a meadow", so hieß es in diesem Lied. Und so geht es immer weiter, bis hin zu zehn Männern und Hunden. Es war ein ganz simples Lied, doch Everett hörte sehr genau zu; es gefiel ihm. Später wurde meiner Frau und mir klar, dass Everett nicht verstanden hatte, was eine "Wiese" war ... oder was "mähen" hieß. (Everett hatte versucht herauszufinden, was diese Männer und ihre Hunde machten, und mit wem.)

Das war ein wunderbarer Abend, doch wenn ich jetzt an Günter denke - zwanzig Jahre nach dem Lied vom Wiesenmähen -, dann muss ich an den Jungen denken, über den er schrieb, als er Beim Häuten der Zwiebel verfasste. Er nannte sich "ein schlimm gebranntes Kriegskind, das deshalb unerbittlich auf Widersprüche gepolt war". (Vielleicht noch treffender ist, wie Günter auch über sich sagte: "Ich fand alles abstoßend, was auch nur einen Anflug von Nationalem hatte.")

Als Schriftsteller gehört Grass zu den Großen. Als Mensch zog er sich und seine Nation - das heißt jede Nation und jeden Einzelnen - zur Rechenschaft. Das würde ich ihm schreiben, wenn ich seinen Brief noch beantworten könnte.

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