Jörg Immendorff, die Affen und der Kanzler
Es beginnt mit der Totenfeier für den Künstler in der Alten Nationalgalerie in Berlin: Jörg Immendorff hat genug von den hehren Worten über sein „zorniges“, „umstürzlerisches“ und „innovatives“ Werk, stürzt sich aus einem Selbstporträt und mischt sich schimpfend unter die hochrangigen Trauergäste.
Diesen surrealen Auftakt wählt der Münchner Autor Tilman Spengler für seine überbordend fantasievolle Erinnerung an einen Freund. „Waghalsiger Versuch, in der Luft zu kleben“ umkreist den Beuysschüler und Kanzlerporträtmaler in anekdotischer und sehr persönlicher Form.
Spengler ist nicht nur beim Düsseldorfer Prozess dabei, der auf Immendorffs „erotische Inszenierung“ mit neun Prostituierte und etlichen Gramm Koks folgte. Er begleitet den unheilbar an ALS erkrankten Künstler auch zu einer mehr als abenteuerlichen Therapie nach China. Immendorff ließ sich in einer Privatklinik Schleimhautzellen chinesischer Föten ins Gehirn spritzen.
Dass dieses phasenweise ergreifende Buch dennoch vor allem ein großes Lesevergnügen ist, liegt an Tilman Spenglers subtiler Ironie, mit der er seine Geschichten veredelt. Ganz besonders gut gelingt ihm dies bei der Beschreibung der Vorstellung des Kanzlerporträts, für das sich Gerhard Schröder ins Düsseldorfer Atelier des erkrankten Künstlers bemühte: „Wenn Kaiser Karl V. sich vor Tizian niederknien konnte, um einen Pinsel aufzuheben, der dem Maler aus der Hand geglitten war, kann ein früherer Kanzler auch die Fahrt mit der Deutschen Bahn auf sich nehmen.“
Als SogaKu, also Sondergast Kultur, hatte Schröder Immendorff im Jahr 2000 mit auf einen Staatsbesuch nach Georgien genommen, ihre erste Begegnung. „Stark“, sagt Schröder sieben Jahre später im Atelier, als er sich in Gold (und flankiert von Affen) erblickt. Spengler greift genüsslich in seinen Bildungsschatz: „Von Alexander dem Großen, dem Ahnherrn verherrlichter Politiker, wird berichtet, dass er seinen Lieblingsmaler Apelles nach jeder Präsentation eines Porträts in ein ausführliches kunstphilosophisches Gespräch zu verwickeln suchte. Gerhard Schröder bleibt bei seiner Linie und verhält sich zurückhaltend und niedersächsisch karg. Bewunderung und Lob treten aus seinem Mund weiter als emphatische Einsilber auf.“ – „Echt toll“, sagt Schröder.
Die 15 Tableaus, die Spengler von der Taufe bis zur Totenfeier Immendorffs entfaltet, erheben nicht den Anspruch auf eine vollständige Künstlerbiografie. Aber sie verdichten sich doch zu einem Porträt mit erhellenden Erkenntnissen: Auf der Fahrt auf der A 44 zwischen Düsseldorf und Aachen, die „nur schwerlich als ein Fest fürs Auge bezeichnet werden kann“, sinniert Immendorff über Schafe: Beuys habe gar keine Ahnung von denen gehabt, hätte nicht einmal eine Heidschnucke vom Fuchsschaf unterscheiden können, dabei lerne man viel von Schafen, etwa, wie sie sich als Herde im Raum verteilen. „Ich habe meine Freunde und Vorbilder, wenn ich sie gemalt habe, immer so angeordnet, als wären wir eine Herde“, zitiert Spengler den Künstler. Erinnert, erfunden? Das spielt eigentlich keine Rolle. Nach der Lektüre dieses wunderbaren Buches betrachtet man auch Immendorffs Schlüsselwerke wie „Café Deutschland“ mit ganz anderen Augen.
Tilman Spengler stellt „Waghalsiger Versuch, in der Luft zu kleben“ (Berlin, 160 Seiten, 18 Euro) am 30. September mit Sten Nadolny im Literaturhaus vor