Jenseits der Windstille

Auch in München einfach furchtbar gut: Jossi Wielers feinnervige Inszenierung von Stefan Zweigs Ehebruch-Novelle "Angst" mit einem grossartigen Schauspieler-Quartett
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Auch in München einfach furchtbar gut: Jossi Wielers feinnervige Inszenierung von Stefan Zweigs Ehebruch-Novelle "Angst" mit einem grossartigen Schauspieler-Quartett

Irgendwo muss eine Lüge sein", verzweifelt die erpresste Irene. Den Liebhaber opfert sie sofort. Aber die Angst vor Entdeckung und dem Verlust ihrer "breitbürgerlichen, windstillen Existenz" treibt sie fast in Wahn und Selbstmord. Die Lüge steckt in Irene selbst, die ihrem Mann um keinen Preis die Affäre eingestehen will. Mit der Rolle dieser zerrissenen Frau gibt der niederländische Theaterstar Elsie de Brauw seinen Einstand als Ensemble-Mitglied der Kammerspiele. Jossi Wielers feinnervige Inszenierung von Stefan Zweigs Novelle "Angst" wurde schon Ende Juli als Koproduktion mit den Salzburger Festspielen gefeiert, nun hatte sie München-Premiere. Der Jubel für Elsie de Brauw, die bravourös erstmals eine Rolle in Deutsch erarbeitete, war gewaltig. In Andre Jung hatte sie einen ebenbürtig brillanten Partner.

Der Wiener Freud-Verehrer Stefan Zweig schrieb diese Erzählung 1913. So kann man die Innenschau einer Frau, die ihr Leben zerbrechen sieht, vielleicht auch als Angst der k.u.k-Monarchie vor dem Zusammenbruch durch Aushöhlung und Normen-Zerfall lesen. Regisseur Jossi Wieler bleibt jedoch zeitlos dicht an der individuellen Psychologie der Figuren. Irene leistet sich nach 12 Jahren Ehe-Routine den Kick eines Abenteuers mit dem Musiker Eduard (Stefan Hunstein sorgt als emotionaler Liebhaber für wunderbar komische und sinnliche Szenen). Bis die Erpresserin dreist immer mehr fordert: Katja Bürkle, erst burschikos in Jeans, gleicht sich Irene an, hat plötzlich deren Frisur. Bürkle schleicht gebückt auch als bebrillt-aufmerksam spionierendes Dienstmädchen durchs Hause Wagner.

Überraschende Volte

Pater familias ist der angesehene Anwalt Fritz: ein liebevoller Ehemann und Vater, der auf die häusliche Ordnung achtet. Als Jurist pocht er auf moralische Hygiene, deren Wert er seinen beiden Kindern nach einem Streit mit einer privaten Gerichtsverhandlung demonstriert und die er verdeckt unablässig auch von seiner Frau einfordert: "Die Angst ist ärger als die Strafe", sagt er. Sie will das nicht verstehen, sondern fragt sich, ob er auch verzeihen könne. Wunderbar spielt Andre Jung auf diesem Grat zwischen treusorgendem Glücksbewahrer und unterschwelligem Sadisten - wer Zweigs Text vorab nicht kennt, entziffert diesen subtilst gespielten Sadismus allerdings erst rückwirkend nach der überraschenden Schlussvolte.

So wie Koen Tachelet in seiner Textbearbeitung Erzählung und direkte Rede ineinander übergehen lässt, lassen die Bühnenwände von Anja Rabes durch Sichtschlitze und Öffnungen innen und aussen ineinander gleiten. Und genauso zeigt Regisseur Jossi Wieler mit der immer wieder optisch überraschenden Inszenierung die Durchdringung von Binnen-Psyche und Umwelt - mit einem glänzenden Schauspieler-Quartett.

Gabriella Lorenz

Kammerspiele, 13., 17. Nov.; 6., 15. Dez., 20 Uhr, Tel. 233 966 00

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