Im Einklang mit der Natur
Semih Kaplanoglu gewann in Berlin für seinen Film „Bal – Honig“ den Goldenen Bären
In der Kindheit hat man noch Zeit für die ruhige Betrachtung, für das Hinsehen und Hinhören, unbelastet und rein, so dass jeder noch so alltägliche Moment zum intensiven Erlebnis werden kann. Und es gibt einiges zu entdecken, zum Beispiel die Reflektion des Mondes in einem Wassereimer. Das Große erscheint da plötzlich winzig und greifbar, und der kleine Yusuf versucht ihn zu fassen, bricht mit der Hand durchs Wasser, wäscht sich das Gesicht. Und dann nimmt die Kamera sich Zeit beim Zuschauen, wie die flirrende Oberfläche sich beruhigt und der Mond darin seine klaren Konturen wieder gewinnt.
Der türkische Regisseur Semih Kaplanoglu hat ein hohes Bewusstsein für die Schönheit, die in den Formen steckt. Sein Film „Bal – Honig“ ist eine Schule des Sehens, kontemplativ und bittersüß, angesiedelt in einem abgeschiedenen Bergdorf im Nordwesten Anatoliens, wo Yusuf mit seinen Eltern lebt. Sein Vater Yakup ist ein Bienenzüchter, der hoch in die Wipfel der Bäume klettert, um dort seine Bienenkörbe aufzuhängen. Ein gefährlicher Beruf, man sieht es gleich zu Beginn in einer sehr langen Einstellung: Der Vater stürzt bei seiner Arbeit mit dem Seil ab, hängt meterhoch über der Erde.
Letzter Teil der Yusuf-Trilogie
Die Auflösung dieser Situation hält der Film lange in der Schwebe, Yakup wird bald als vermisst gemeldet. Zunächst zeigt Kaplanoglu das Familienleben vor dem Fall, aus der Perspektive des Jungen, der mit seinem Vater, ein eigenbrötlerischer Mann, in die Wälder zieht und sich von ihm die Bergwelt erklären lässt.
Es ist eine idyllische Welt, von Kameramann Baris Özbicer in wunderschönen Bildern eingefangen. Bei seinen Eltern, in der Natur fühlt sich der Junge sicher; er kann bereits lesen, kommt jedoch in der Schule ins Stottern und hält sich von den anderen fern. Schauspieldebütant Bora Altas spielt diesen Außenseiter mit anrührender Verhaltenheit, man folgt ihm gerne.
Kaplanoglu beendet mit diesem letzten Teil seine autobiografisch gefärbte Yusuf-Trilogie, nachdem er in „Yumurta – Ei“ (2007) den gealterten Dichter Yusuf aus der Großstadt in seine Heimat zurückkehren und in „Süt – Milch“ (2008) den 20-Jährigen seine lyrische Ader entdecken ließ. Der Yusuf dieser Filme, betont Kaplanoglu, muss nicht der gleiche sein, doch betrachtet man die Trilogie als Werdegang eines Menschen, so wird in „Bal“ ein Kind mit allem Potenzial für die bereits vorgezeichnete Zukunft gezeigt.
Michael Stadler
Kino: Atlantis (OmU), City; R: Semih Kaplanoglu (TR, 104 Min.)
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