Hatte Hitler wirklich einen Schutzengel?

Was wäre, wenn? Der Schriftsteller Dieter Kühn fantasiert über gescheiterte Attentate
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Was wäre, wenn? Der Schriftsteller Dieter Kühn fantasiert über gescheiterte Attentate

Einen Monat lang trank Georg Elser sein Bier allabendlich im Bürgerbräukeller. Dann ließ er sich einschließen und füllte Sprengstoff in eine Säule. Sie explodierte am 8. November 1939 exakt zur vorgesehenen Zeit um 21.20 Uhr. Hitler, der dort mit Getreuen den Jahrestag des Marschs auf die Feldherrnhalle feierte, kam ums Leben.

Natürlich stimmt das nicht: Der Anschlag misslang, weil Hitler kürzer redete als sonst. Über die Frage „Was wäre, wenn?“ spekulieren Historiker nur ungern. Aber in der Literatur gehört das zum Kerngeschäft. Dieter Kühn spielt die Folgen von Hitlers vorzeitigem Abgang durch: Göring wird Nachfolger. Er verzichtet auf den Frankreich-Feldzug, regiert prächtig und gibt bei Carl Orff eine arische Version des Finales von „Faust II“ in Auftrag. Der Ersatz für Gustav Mahlers monumentale „Symphonie der Tausend“ wird von Wilhelm Furtwängler im Berliner Dom uraufgeführt.

Leider ist die zweite Hälfte mißlungen

Kühn hat für seine Spekulationen auch den treffenden Stil gefunden: ein schnarrendes, kurz angebundenes Stakkato. Beim zweiten Erzähl-Anlauf des Buches glückt der Anschlag des Offiziers Henning von Treskow. Er schmuggelte am 13. März 1943 eine als Cointreau-Flasche getarnte Bombe in die Führermaschine. Leider fror der Zünder ein. Bei Kühn natürlich nicht, worauf Erwin Rommel als Reichspräsident die Macht ergreift. Deutschland bleibt die bedingungslose Kapitulation erspart, weil Churchill ein Bollwerk gegen Russland braucht.

Auch hier folgt auf Hitler eine Art neuwilhelminischer Nazismus light. In beiden Fiktionen wird schleunigst Heinrich Himmler ausgeschaltet, den Kühn für die übelste aller Möglichkeit hält. Leider spielt er diese Variante nicht durch. Das ist schade, denn der Rest des schmalen Bandes besteht aus Geschwurbel. Erst kommt Hitlers Schutzengel zu Wort, der über die alte Theologenfrage nach dem Sinn des Übels in der Welt fabuliert. Dann dokumentiert Kühn die fiktiven Förderunganträge eines Künstlers, der Hitlerbüsten zerstören will. Das soll wohl die quälende Dauerentsorgung der Nazi-Vergangenheit satirisch treffen, bleibt aber nebulös. So versickert der anfangs starke Sprachfluss in der Unendlichkeit der Schwafelwüste.

Robert Braunmüller

Dieter Kühn: „Ich war Hitlers Schutzengel“ (S. Fischer, 208 S., 19.95 Euro, ab 18. Januar)

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