Großartige Bewältigung
Eröffnung des Cuvilliés-Theaters mit dreieinhalb aufregenden Musiktheater- Stunden: Dieter Dorn inszenierte Mozarts „Idomeneo“
Der gemalte Plüschvorhang öffnete sich schon zu der von Kent Naganos Staatsorchester kantig betonten Ouvertüre. Der im prächtigen Rokoko sitzende Zuschauer blickte auf kahlen Beton, sechs Heizkörper, zugehörige Leitungen und ein blutverschmiertes Fenster. Dann stürmten trojanische Football-Kämpfer herein, die vom Samurai Idomeneo hingemetzelt wurde.
Das war nicht neu, aber es wirkte. Dieter Dorns „Troilus und Cressida“ (1986) kam einem in den Sinn. Wenn die Bebilderung einer Ouvertüre sinnvoll ist, dann hier: Sie führte die alles überschattende Vorgeschichte vor Augen. Dorn verstand Mozarts „Idomeneo“ als Bewältigung eines Kriegstraumas. Und der angeblich so schwache Text des wackeren Hofkaplans Varesco gewann im Cuvilliés-Theater die Wahrheit eines Shakespeare-Dramas.
Der Trojanische Krieg und die Schuld Idomeneos blieben allgegenwärtig. Am Ende des ersten Akts setzte Dorn Mozarts Marsch-Festlichkeit die schwarz verhüllte Trauer der kretischen Frauen entgegen und inszenierte ihr bewegendes Wiedersehen mit den Heimkehrern. Die von Varesco schwach motivierte Raserei Elettras beglaubigte er in ihren Arien durch die Vision der Ermordung Agamemnons und von Orests blutiger Rache. Als Kontrast zu Idomeneos erfolgreicher Trauerarbeit wirkte dies zwingend.
Die Akustik des Cuvilliés-Theaters ist hart und trocken wie ehedem. Kent Nagano machte mit dem scharf, dramatisch und bläserbetont spielenden Staatsorchester daraus das Beste. Der historisch informierte Stil war die perfekte Entsprechung zu Dorns psychologischem Tiefgang. Anfängliche Verspannungen lösten sich im Verlauf des Abends, und nach den ledernen Soli in den ersten beiden Arien Idamantes steigerte sich das Staatsorchester zu einer Höchstleistung.
Die Zeiten des süßen Mozart-Gesangs sind dahin. Juliane Banse nutzte erkältungsbedingte Schärfen, um Ilias Zerrissenheit zu betonen. Dagegen fiel die unflexibel mit seltsamer Technik singende Annette Dasch in der Rolle der Elettra trotz darstellerischer Qualiäten ab. Rainer Trost stellte mit Resten einer schönen Mozart-Stimme die sonst gestrichenen Arbace-Arien zur Diskussion. Idamante griff gleich in der ersten Szene nach der Krone. Weil Dorn den Konflikt zwischen Vater und Sohn betonte, wirkte die Wiener Fassung der Rolle konsequent. Mit einem gelegentlichen Piano wäre der kernig singende Pavol Breslik noch eine Klasse besser. John Mark Ainsleys Gesangskultur kam im kleineren Raum viel besser zur Geltung als jüngst beim „Tamerlano“ im Nationaltheaters. Die Koloraturketten von Idomeneos „Fuor del mar“ waren bravourös gesungen und erzählten vom vergeblichen Versuch, Mut und Selbstbewusstsein herbeizuzwingen.
Nach dreieinhalb aufregenden Musiktheater-Stunden wurde das traditionell gestrichene Ballett zum Höhepunkt und Ziel der Aufführung: Statt mit der schlechten Laune des Regietheaters das glückliche Ende mies zu machen, fand Dorn das passende Theaterbild für Ilias und Idamantes Neuanfang: Der Chor verhängte die Trümmer mit weißen Tücher. Das Trauma war bewältigt, nicht vergessen.
Zuletzt fuhr das Staatsorchester mit dem Graben hoch und beschloss die Aufführung als Konzert. Für eine gleichermaßen runde Münchner Mozart-Inszenierung muss man bis zu Dorns „Così fan tutte“ am gleichen Ort zurückschauen. Jürgen Roses grelle Kittelschürzen lassen sich mit Verweis auf die bunten Göttern der Antike entschuldigen. Dieser „Idomeneo“ ist ein Glücksfall: Nichts ist schwerer, als eine Opera seria psychologisch glaubhaft zu machen.
Robert Braunmüller
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