Godzillas Kraftwerk

Die radioaktive Strahlung ist ein Stoff, aus dem die Kultur schon oft ihren kreativen Horror entwickelt hat
Adrian Prechtel, Robert Braunmüller, Volker Isfort |
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DER ANFANG:

Die amerikanischen Atombombenabwürfe auf Hiroshima und Nagasaki im August 1945 waren ein Schock erst für Japan, dann für die Menschheit. Schon knapp zehn Jahre später fand das Unheimliche einer atomaren Vernichtung künstlerischen Ausdruck in einem B-Movie: 1954 erblickte das durch Atomtests entstandene Riesenmonster Godzilla das Licht der Leinwand. Die globale Angst vor Atomschlägen und möglichem Weltuntergang durch Verstrahlung fand ihr spielerisches Horror-Ventil in immer neuen Varianten und Monsterkämpfen der „Godzilla”-Figur und wurde bis heute fast drei Dutzend Mal auf die Menschheit im Kino losgelassen.

AUFKLÄRUNG UND APOKALYPSE:

Das Kino spiegelt den Zeitgeist: Die 80er Jahre waren mit der alternativen Anti-Atombewegung eine Zeit, in der der atomare Albtraum als heilsamer politischer Schock eingesetzt wurde. Seit 1987 ist der Jugendroman „Die Wolke” der Lehrerin Gudrun Pausewang fast Schulpflichtlektüre: Aus der Sicht einer 14-Jährigen in der deutschen Provinz wird ein Reaktorunfall beschrieben, der die Protagonistin verstrahlt. Das Buch wurde 2006 verfilmt.

In der Angst vor einer Kernschmelze in Japan verweisen viele auf die Reaktorkatastrophe in Tschernobyl 1986. Doch die Ereignisse erinnern eher an eine Teil-Kernschmelze in Harrisburg, Pennsylvania, am 28. März 1979, die eine Strahlungswolke auslöste.  Knapp zwei Wochen zuvor war der Film „Das China-Syndrom” angelaufen. Jane Fonda und der junge Michael Douglas spielen darin zwei Reporter, die mit Hilfe eines Kraftwerkmitarbeiters (Jack Lemmon) einen Störfall aufdecken, bei der sich der Reaktorkern beinahe „bis China durchgeschmolzen” hätte. Der Film lief mäßig an, zu unwahrscheinlich schien solch ein Unfall. Dann brannte das AKW in Harrisburg. In dem Film sagt ein Protagonist, ein solcher Unfall würde „ein Gebiet von der Größe Pennsylvanias” unbewohnbar machen.

1983 versuchte der TV-Film „The Day After” in den USA das Szenario eines Atomkrieges auf amerikanischem Boden zu inszenieren. Drei Jahre später entstand der erschütternd satirische britische Zeichentrickfilm „When the Wind Blows”, der das Zivilschutzprogramm gegen Strahlenschutz als Augenwischerei entlarvte: Ein sympathisches Mittelklasse-Ehepaar hält sich naiv an die optimistisch gefärbten Anweisungen einer Regierungsbroschüre für den Fall eines Atomschlages, aber verreckt elendig an der Verstrahlung. David Bowie sang eindringlich endzeitlich den von Roger Waters komponierten Titelsong. Im vergangenen Jahr lieferten Iron Maiden ihre musikalische Bearbeitung des Stoffes. Bereits 1971 hatte Wishful Thinking mit „Fly little Bird to Hiroshima” den süßlichen Flower-Power-Sound für die Opfer von Hiroshima geliefert.

1975 gingen die Düsseldorfer Avantgardisten von Kraftwerk in ihr Kling-Klang-Studio, um das sprachlich doppeldeutige Konzeptalbum „Radio-Aktivität” aufzunehmen, mit der zynischen Textzeile aus „Geigerzähler”: „Radioactivity is in the air for you and me”. Das Album erreichte nicht die Verkaufszahlen des Vorgängers „Autobahn”. Für den Remix von 1991 wurde der Song durch die Nennung der Katastrophen-Reaktoren Sellafield, Harrisburg und Tschernobyl kritisch geschärft. Auf Youtube fordern erste Nutzer, zusätzlich auch Fukushima zu nennen.

NACH DER APOKALYPSE:
Die Welt außerhalb des Raumes ist tot. Es scheint, dass seine vier Insassen die einzigen Überlebenden einer großen Katastrophe sind. Samuel Becketts „Endspiel” von 1956 passt auf alle Katastrophen seit dem Atomkrieg. Heiterer geht Arno Schmidts fünf Jahre zuvor erschienener Kurzroman „Schwarze Spiegel” mit diesem Thema um: Hier radelt der letzte Mensch durch die Lüneburger Heide, besichtigt die Überreste der Zivilisation und mokiert sich über Illustrierte, Schlager und Beamte. Vor allem aber das Kino hat in der vollkommen zerstörten Zivilisation den fruchtbaren Boden für Kassenknüller gefunden. Hier toben sich entfesselt Mad Max und Eraserhead aus, hier jagt Resident Evil und hier nimmt Viggo Mortensen in „The Road” seinen Filmsohn schützend an die Hand. Fast alles ist vernichtet, die Welt ist zusammengebrochen. Den Schmerz über das Ende der menschlichen Kultur und den Zusammenbruch der Welt hat wohl niemand deutlicher zu Papier gebracht als T. S. Eliot. Sein Gedicht „The Waste Land” entstand allerdings nach einer anderen Apokalypse – dem Ersten Weltkrieg.

adp/RBR/vi

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