Gezimmerte Wirklichkeit
Gerhart Hauptmanns „Rose Bernd“ hat heute Premiere am Resi. Regisseur Enrico Lübbe über Scheuklappen, die Kraft des Dialekts und Kinderstars in der DDR
Sie ist ein Bauernmädel, jung, stark und so attraktiv, dass alle Männer hinter ihr her sind. Das ist ihr Verhängnis. Vom Gutsherrn Flamm erwartet Rose Bernd ein Kind, der Weiberheld Streckmann erpresst und vergewaltigt sie. Ihr sektiererischer Vater will sie mit einem frommen Traktätchenhändler verheiraten. Vor beiden muss sie alles verheimlichen. 1903 wurde die Landarbeiterin Hedwig Otte wegen Kindsmords angeklagt: Der Dichter Gerhart Hauptmann gehörte zu den Geschworenen des Prozesses. Er plädierte für Freispruch und schrieb danach sein Sozialdrama „Rose Bernd“. Das inszeniert Enrico Lübbe im Residenz Theater. Der 35-Jährige stellt sich damit heute erstmals als Regisseur in München vor. Lucy Wirth spielt die Titelrolle, Juliane Köhler die Frau Flamm.
AZ: Herr Lübbe, was erzählt uns Gerhart Hauptmann mit „Rose Bernd“ heute noch?
ENRICO LÜBBE: Das Stück zeigt eine Gesellschaft, in der starke Normen behauptet werden, die aber nicht für alle gelten. Diese Gesellschaft funktioniert stark über Scheuklappen – viele Figuren versuchen manisch, sich ein Leben hinzuzimmern. Was nicht passt, wird ausgeblendet. In diesem Punkt kann man eigentlich alle Figuren in ihrem – teilweise extremen – Handeln verstehen. Roses Vater lässt am Ende seine Tochter fallen, weil er seine Position in der Gesellschaft nicht riskieren will. Die Gegenposition hat Frau Flamm inne: Diese Figur ist so modern, dass Hauptmann sie wohl deshalb damals in einen Rollstuhl setzen musste. Sie ist klug und weitsichtig. Sie kennt die Umtriebe ihres Mannes und arrangiert sich, um die Fassade aufrecht zu erhalten. Doch sein Verhältnis mit Rose, die quasi eine Familienangehörige ist, geht ihr zu weit. Aber sie ist scharf auf das Kind, das sie selbst nicht kriegen kann. So ist das Stück letztlich auch eine Studie über tiefe Einsamkeit.
Hauptmann hat es im schlesischen Dialekt geschrieben. Wie gehen Sie damit um?
Wir haben bewusst diese zum Teil fremden Wörter, die andere Grammatik und Wortstellung beibehalten, weil daraus eine große Kraft entsteht, die im geglätteten Hochdeutsch verloren ginge. Wenn man den Text ganz pur, trocken vom Blatt spricht, ergibt sich eine Kunstsprache, die eher eine Behauptung als ein Dialekt ist. Auch mit Naturalismus, als dessen großer Vertreter Hauptmann ja gilt, hat die Inszenierung nicht viel zu tun – weder in der Spielweise noch in der Ausstattung. Bei mir gibt’s keine Möbel, kaum Requisiten. Nur eine große Kirschholzschräge – wie eine Scholle Land. Da wirken die Figuren mitunter sehr einsam und verloren, können aber gerade in der Weite des Raumes eine große Kraft entwickeln.
Sie waren mit elf fast ein Kinderstar in der DDR: 1986 spielten Sie in der Fernseh-Serie „Alfons Zitterbacke“ die Titelrolle.
„Alfons Zitterbacke“ war ein sehr bekanntes Kinderbuch in der DDR, deshalb war auch die Serie so populär. Die DDR wollte keine Kinderstars, deshalb bekam man danach bewusst keine weiteren Rollen mehr. Ich wollte ohnehin nie Schauspieler werden. Aber bis heute werde ich immer noch auf Alfons Zitterbacke angesprochen.
Sie wollten Musik studieren. Wieso sind Sie dann doch am Theater gelandet?
Ich habe Akkordeon und Klavier am Schweriner Konservatorium gelernt und wurde bereits mit 14 zur Musikhochschule nach Berlin zugelassen. Die Ausbildung war punktuell wie im Leistungssport: Es ging vor allem um Wettbewerbe. Mit dem Fall der Mauer änderte sich das Profil vieler Musikschulen und ich entschied mich dann doch für ein Studium der Kommunikations- und Theaterwissenschaft in Leipzig, wollte Kulturjournalist werden und habe bei Wolfgang Engel, dem Leipziger Theater-Intendanten, hospitiert. Der hat mich zum Regieassistenten und bald zum Hausregisseur gemacht. Ich verdanke ihm viel: Ich konnte vier Jahre mit einem Ensemble in einem geschützten Raum arbeiten, auch mit der Möglichkeit des Scheiterns ohne Existenzangst.
Seit zwei Jahren leiten Sie das Schauspiel am Fünf-Sparten-Haus in Chemnitz.
Chemnitz hat knapp 250000 Einwohner und eine große Schauspieltradition: Hier haben Regisseure wie Castorf, Petras, Thalheimer und Hasko Weber angefangen, Schauspieler wie Corinna Harfouch, Ulrich Mühe, Peter Kurth. Auch dadurch ist es dort ein gutes, genau beobachtendes Publikum, das ehrliche, ernsthafte Arbeit sehr honoriert.
Gabriella Lorenz
Residenz Theater, heute, 9. Juli, 19 Uhr, Tel. 2185 1940
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