Gesprengte Festspiele

Vor 125 Jahren starb Richard Wagner in Venedig. Aber bis heute ist er der unruhigste Untote der deutschen Kulturgeschichte. Wir sprachen mit einem raren Exemplar: einem kritischen Wagnerianer.
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Vor 125 Jahren starb Richard Wagner in Venedig. Aber bis heute ist er der unruhigste Untote der deutschen Kulturgeschichte. Wir sprachen mit einem raren Exemplar: einem kritischen Wagnerianer.

AZ: Herr Borchmeyer, warum lässt Wagner uns nicht los?
DIETER BORCHMEYER: Er ist der einzige Klassiker, der immer noch polarisiert wie zu seinen Lebzeiten. Ich erinnere mich noch gut an den Streit über Bertolt Brecht in der Nachkriegszeit. Heute ärgert er niemand mehr.

Wagner schon. Was ist der Grund dafür?
Die Zwiespältigkeit seiner Person. Wagner war ein musikalisches Genie. Zugleich war er Teil der Irrungen des 19. Jahrhunderts. Sein Antisemitismus ist scheußlich. Er setzte sich in der Familie fort, die sich tief in den Nationalsozialismus verstrickte. Wäre Wagner als Komponist weniger begabt gewesen, man hätte 1945 das Festspielhaus gesprengt.

Spielte Wagners Judenhass den Nazis in die Hände?
Er war Antisemit, aber kein Rassist. Wagner glaubte, die Menschheit würde sich auf eine Einheit der Gattung hin entwickeln. Sein Kunstwerk der Zukunft sollte dem zuarbeiten. Er hoffte, wie Karl Marx, die Juden würden jüdische Eigenschaften ablegen. Das alles konnten die Nazis nicht brauchen. Bezeichnenderweise hat sich Hitler nie auf Wagners Antisemitismus berufen. Der Holocaust lag außerhalb von Wagners Vorstellung, auch wenn er einmal im „heftigen Scherz“ hoffte, alle Juden würden in einer Aufführung von Lessings „Nathan“ verbrennen. Leider hat seine Frau Cosima diese Geschmacklosigkeit in ihren Tagebüchern überliefert.

Sie haben die Ansicht vertreten, die Musikdramen seien frei von Antisemitismus.
Dazu stehe ich. Es hat mich auch nie jemand widerlegen können. Es erstaunt mich selbst, dass Wagner seinen Judenhass nicht in das Werk verpflanzte. Als Schriftsteller war er polemisch, aber er wollte keine Tendenzkunst schaffen.

Was wiegt die häßlichen Seiten Wagners auf?
Es gibt so viel in seinem Werk, was zu Tränen rührt. Neben Wagners Chauvinismus steht die tiefe Humanität seiner Musikdramen. Das große Motiv seines Spätwerks im „Ring“ und im „Parsifal“ ist die Absage an die Macht. Trotzdem: Bei Wagner fühle ich mich, im Unterschied zu Mozart, nie ganz wohl.

Was hätte Wagner komponiert, wenn er länger gelebt hätte?
Es ist seltsam: Er starb gut ein halbes Jahr nach der Uraufführung von „Parsifal“. Damit waren alle zentralen Projekte seines Lebens abgeschlossen. Er hatte vage Pläne für Sinfonien. Vielleicht, wenn Wagner so alt wie Verdi geworden wäre, hätte er noch eine Komödie von William Shakespeare vertont. Das glaubte jedenfalls der Regisseur Jean-Pierre Ponnelle. Mir gefällt diese Idee.

Was halten Sie davon, den Bayreuther Spielplan zu erweitern?
Das Testament von Siegfried und Winifred Wagner ist Teil der Stiftungsurkunde. Demnach darf im Festspielhaus nur Wagner gespielt werden. Damals war unbekannt, dass er auch über die Aufführung von Schillers „Wallenstein“ nachdachte. Ich finde, man könnte über Frühwerke wie „Rienzi“ und „Das Liebesverbot“ nachdenken. Aber das versenkte Orchester eignet sich dafür nicht. Wenn ich Intendant wäre, würde ich Wagners Bearbeitung von Glucks „Iphigenie in Aulis“ im Markgräflichen Opernhaus spielen. Auch das französische Original des Pariser „Tannhäuser“ würde mich interessieren.

Es gibt ein zweites Jubiläum.
Ja, vor 75 Jahren hielt Thomas Mann in der Münchner Uni seine Rede über „Leiden und Größe Richard Wagners“. Sie ist das Wunderbarste, was je über ihn geschrieben wurde. Das naziverseuchte Bürgertum reagierte mit dem „Protest der Richard-Wagner- Stadt-München“ und vertrieb den Schriftsteller ins Exil. Die Rede hat meinWagner-Bild geprägt. Ich höre ihn mit dem rechten Ohr von Nietzsche und dem linken von Thomas Mann. Robert Braunmüller

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