Geschlossene Gesellschaft

Mit dem Theater 44 in Schwabing gehen 50 Jahre Kleintheater-Geschichte zu Ende. Sein Prinzipal Horst Reichel hat genug vom „Hamsterrad“
von  Abendzeitung

Mit dem Theater 44 in Schwabing gehen 50 Jahre Kleintheater-Geschichte zu Ende. Sein Prinzipal Horst Reichel hat genug vom „Hamsterrad“

Die 50er Jahre müssen eine seltsame Zeit gewesen sein. Da beschloss der 24-jährige Schauspieler Horst Reichel, seine Schulden, die er mit einem glücklosen Geschäft für Truppenbetreuung angehäuft hatte, mit der Gründung eines Theaters zu tilgen.

Heute gälte dies als sicherste Methode, sich zu ruinieren. Zumindest aber könnte man bei der Bank für den Plan, seine Finanzen mit einer Bühne sanieren zu wollen, mit einem Riesenlacher rechnen. Auf Lacher waren Reichel und seine Ehefrau und Ko-Chefin Irmhild Wagner in ihrem Theater 44 allerdings nie aus. Komödien kamen nur ins Haus, wenn die Kasse gerade nicht stimmte. Die Kommission, die Empfehlungen für die städtische Subventionierung der privaten Theater ausspricht (zuletzt 55000 Euro), beschreibt den Stil des Hauses als Ziel, „Stücke moderner Klassiker oder zeitgenössischer Autoren zur Aufführung zu bringen, die sich mit politischen sowie gesellschafts- und sozialkritischen Themen befassen“.

Der Keller wurde immer größer

Dieses Konzept besteht seit 1959. Damals spielte Reichel in der Kneipe „Witwe Bolte“, wo knapp zehn Jahre später auch Rainer Werner Fassbinder seine ersten Produktionen probte, oder in einer Garage in der Schleißheimer Straße. Dort hatte das Reichelsche Theater 44 Plätze – ein Umstand, der im Namen des Hauses verewigt wurde. Seit das Theater 44 dann 1962 in einen Keller in der Hohenzollernstraße umzog, verfügt es über etwa die doppelte Zahl an Sitzplätzen, aber der Name blieb. 2009 wird das Theater 44 sein 50-jähriges Bestehen feiern, und es wird das letzte Jahr sein. Der 73-jährige Prinzipal sehnt sich danach, sein selbst gewähltes „Hamsterrad“ endlich verlassen zu können.

Befragt, ob er nicht ein paar Theateranekdoten aus einem halben Jahrhundert Schauspielerei und Regietätigkeit auf Lager habe, räumt er ein: „Ich bin ein sehr ernster Mensch“, outet sich aber auch als Fan der großen Revuen. Zu einer Paris-Reise gehöre bei ihm zwingend ein Besuch des Lido – „das ist großes Theater“.

Das lässige Namedropping ist zwar nicht seine Sache, aber im Gespräch mit Reichel bleiben die Histörchen doch nicht aus. Zum Beispiel der Anruf von Bestsellerautor Kishon: „Hier spricht Ephraim Kishon. Ich hätte gerne eine Karte für heute Abend.“ Reichel war sicher, es mit einem Scherzbold zu tun zu haben, aber am Abend stand Kishon an der Kasse. Auf dem Programm stand „Drehen Sie sich nicht um, Frau Lot“ mit Texten des israelischen Satirikers, allerdings waren die Aufführungsrechte noch ungeklärt. Nach der Vorstellung gab Kishon grünes Licht: „So dürft ihr das spielen.“

Eine Talenzschmiede

Nicht nur für Autoren, sondern vor allem für Schauspieler war die Hohenzollernstraße 20 eine der ersten Adressen: „Fragen Sie nicht, wer hier schon alles gespielt hat, sondern es geht schneller, wenn Sie wissen wollen, wer hier noch nicht war“, empfiehlt Horst Reichel. Bevor ihn Filmemacherin Doris Dörrie für ihren Kinohit „Männer“ entdeckte, wirkte Heiner Lauterbach in fünf Stücken mit, spätere Bühnenlegenden wie Otto Sander waren da, Katja Flint spielte sogar „höchstschwanger“ mit.

War früher alles besser? „Jede Zeit ist auf ihre Weise richtig“, meint der sonst eher impulsive Horst Reichel fast schon altersweise, wobei es gewiss Jahre gegeben habe, in denen das Publikum neugieriger und die Autoren interessanter waren. Junge Regisseure und Dramaturgen „wollen im Moment nur noch nackte Ärsche sehen. Aber bei uns machen wir immer noch ein Theater im Sinne der Autoren.“ Und diese Autoren sind bevorzugt die „modernen Klassiker“. So steht zur Zeit „Auf dem Chimborazo“ von Tankred Dorst auf dem Programm.

Die Frage, welches Stück er gerne noch einmal machen würde, beantwortet Reichel ohne Zögern: „Geschlossene Gesellschaft“. Diesen Wunsch erfüllt er sich, und Jean-Paul Sartre schreibt damit das letzte Kapitel einer Münchner Kulturinstitution: Reichels Neuinszenierung der „Geschlossenen Gesellschaft“ soll Anfang Februar Premiere haben, und mit der Dernière am 2. Mai wird der letzte Vorhang im Theater 44 fallen.

Mathias Hejny

Die Situation der Münchner Kleintheater

In die Münchner Privattheater-Szene kommt Bewegung: Das Theater 44 könnte als Kleinkunstbühne von Henny Heppel und Wolfgang Ettlich übernommen werden, die ihr „Heppel & Ettlich“ an der Kaiserstraße aufgeben wollen. Gespräche dazu gibt es, feste Vereinbarungen noch nicht. Das Glockenbachviertel bangt ums Theater Undsofort an der Hans-Sachs-Straße. Nach dem Verlust der städtischen, jurygesteuerten Hauptförderung wurde von Kulturreferat und Bezirksausschuss eine Interimslösung ausgehandelt, doch ungeachtet dessen hat die Vermieterin dem Theater gekündigt.

Aufgegeben hat letztes Jahr die Komödie am Max II, nun wird das Haus als Showbühne von der GOP-Entertainment-Group bespielt. Dahinter steht immer wieder die Frage, ob und wie die Stadt das Überleben der Privattheater mit Geld absichern soll. In den 90er Jahren war das ein Schlachtfeld der Kulturpolitik. Seit der Stadtrat das „Gießkannenprinzip“ durch die gezielte „Qualitätsförderung“ ersetzt hat, ist es ruhiger geworden. Ausgeschüttet werden 1,457 Millionen Euro pro Jahr, die anteilig auch an freie Bühnen, Tanzgruppen und Debütanten gehen. Anfang 2009 will das Kulturreferat ein neues Fördermodell dem Stadtrat vorstellen.

gr.

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