Gemeinsam in die Zukunft?

Wahlkampf einmal ganz anders: Im Frankfurter Kunstverein überzeugt eine Ausstellung, in der sich Künstler mit der Mechanik der Macht, mit falschen Versprechungen von Politikern und einer ganz anderen Art der Geschichtsschreibung beschäftigen.
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Gemeinsam oder doch gegeneinander? Angela Merkel und Edmund Stoiber.
Michael Trippel 5 Gemeinsam oder doch gegeneinander? Angela Merkel und Edmund Stoiber.
Sieht so ein Kompetenzteam aus? Wahlkampf von Angela Merkel 2005.
Michael Trippel 5 Sieht so ein Kompetenzteam aus? Wahlkampf von Angela Merkel 2005.
"Der Augenblick": Ein Film über Fremdheit von Michaela Schweiger.
Michaela Schweiger 5 "Der Augenblick": Ein Film über Fremdheit von Michaela Schweiger.
Rauminstallation mit 13 Dia-Projektoren
Petra Gerschner 5 Rauminstallation mit 13 Dia-Projektoren
Zwei identische Hassprediger aus dem US-Fernsehen - eine Videoinstallation von Bjorn Melhus.
Bjorn Melhus 5 Zwei identische Hassprediger aus dem US-Fernsehen - eine Videoinstallation von Bjorn Melhus.

FRANKFURT - Wahlkampf einmal ganz anders: Im Frankfurter Kunstverein überzeugt eine Ausstellung, in der sich Künstler mit der Mechanik der Macht, mit falschen Versprechungen von Politikern und einer ganz anderen Art der Geschichtsschreibung beschäftigen.

Wirklich herzlich sieht das nicht aus, wie der Mann den Arm der Frau neben sich in die Höhe zieht. Die Parole dahinter wirkt auch irgendwie verlogen: „Gemeinsam für den Wechsel“ steht hinter Edmund Stoiber und Bundeskanzlerin Angela Merkel in großen Lettern an die Wand geschrieben – damals 2005 vor der letzten Bundestagswahl als Motto des CSU-Parteitages. Wer das Foto betrachtet, mag nicht wirklich daran glauben, dass hier ein Team am Werk war.

Auf seinen Bildern strahlen die Mächtigen nicht und sie wirken wenig überzeugend. Dabei sind die Fotos alle auf den großen Presse-Events von Parteien und Politikern entstanden. Doch statt dort den inszenierten Glanz affirmativ abzubilden, entlarven diese Bilder den schönen Schein und die Rituale der phrasenhaften Versprechungen.

„Mechanik der Macht“ nennt Michael Trippel seine fotografische Serie – es ist eine aufschlussreiche und überzeugende Arbeit. Der Berliner Fotograf versteht es, den richtigen Zeitpunkt für seine Aufnahmen abzuwarten und er sucht sich vor allem die richtige Position. Und die ist in der Regel im Abseits.

Vom Ankommen in einer fremden Gemeinschaft

„Gemeinsam in die Zukunft“ heißt die aktuelle Schau im Frankfurter Kunstverein. Sie bietet eine intelligente, unterhaltsame, kritische und sehr vielseitige Auseinandersetzung mit Politik, Macht und Gesellschaft kurz vor der Bundestagswahl. Insgesamt 13 Künstler untersuchen dabei die Regeln und Strukturen von Wahlkämpfen, von Ein- und Ausschluss, erzählen von Manipulation, analysieren das Verhältnis von Individuum und Kollektiv oder stellen die herrschende Geschichtsschreibung offen in Frage. Zu sehen sind dabei vielfältige Medien wie Malerei, Skulptur sowie Foto- und Videoinstallationen.

Allein „Der Augenblick“ lohnt den Besuch der Ausstellung: Der 12-Minuten Film von Michaela Schweiger, der auf einer Großleinwand als Dauerloop gezeigt wird, erzählt vom Ankommen in einer neuen, fiktiven Gemeinschaft. Gedreht in einer surreal anmutenden Landschaft - einem früheren Tagebaugelände - lässt die Kameraperspektive den Betrachter schonungslos einer Gruppe von Menschen gegenüber treten und ihn so verwirrende und verletzende Gefühle der Fremdheit erleben – es sind Gesten und Mimiken der offenen und subtilen Ablehnung, aber auch hilflos-verlegene Versuche der Annäherung und Begrüßung, die die Künstlerin brillant auf die Leinwand bringt.

Die Propaganda-Lügen des Neoliberalismus

Die Arbeit von Johanna Kandl hat durch die aktuelle Krise des Kapitalismus sogar noch an Brisanz gewonnen: In ihren großformatigen Bildern reflektiert die österreichische Malerin die zynische Kluft zwischen den Leitsätzen und falschen Versprechen der neoliberalen Propaganda. Es sind plakative Text-Bild-Montagen, gemalte Anklagen gegen eine zynische Realität: Eines dieser Bilder zeigt eine alte Frau auf einem osteuropäischen Markt, die schwer gezeichnet von der körperlichen Anstrengung lebenslanger harter Arbeit noch immer Obst und Gemüse verkaufen muss. Auf dem Bild kann der Betrachter die Parole lesen: „Jede Frau hat das Zeug zu einer Millionärin“. Auf einem anderen Motiv taucht der Börsen-Lehrsatz „You can win when markets fall and when markets rise“ auf – die Verlierer beider Gewinn-Optionen zeigt Johanna Kandl.

Die Münchner Künstlerin Petra Gerschner hat aus ihrem Langzeitprojekt „history is a work in process“ eine komplexe Rauminstallation mit 13 Dia-Projektoren entwickelt: Die Fotografien, die alle von der Künstlerin selbst im Laufe der letzten 25 Jahre aufgenommen wurden, formulieren Geschichte aus einer ganz anderen Perspektive. Sie zeigen politische Interventionen und internationale Proteste der sozialen Bewegungen gegen Krieg, Umweltzerstörung und Kapitalismus – vom Widerstand gegen die Startbahn West in Frankfurt (1984), die geplante atomare Wiederaufbereitungsanlage in Wackersdorf (1986) über Aktionen gegen Polizeigewalt in New York oder gegen Abschiebungen am Münchner Flughafen bis zum Widerstand gegen den G-8-Gipfel in Heiligendamm (2007) oder den Nato-Gipfel in Strasbourg im April diesen Jahres. So beleuchtet die Arbeit mit einer ganz eigenen Bildsprache Erfahrungen und Prozesse, die in der herrschenden Geschichtsschreibung nur selten oder meist verzerrt repräsentiert werden.

Unbedingt sehenswert sind auch die Videoinstallation von Björn Melhus über die demagogische Macht und Verführung von Fernseh-Predigern, das Video „Super Smile“ der Taiwanesin Effi Wu sowie die archivische Analyse von Wahlkampf-Plakaten deutscher Parteien aus sechs Jahrzehnten von Martin Conrath und Marion Kreißler.

Die Ausstellung ist noch bis zum 4. Oktober zu sehen (Dienstag bis Sonntag: 11 bis 19 Uhr). Kuratiert hat sie Holger Kube Ventura – es ist sein überzeugender Einstand als neuer Leiter in dem renommierten Ausstellungsort am Frankfurter Römerberg. Sie macht neugierig auf die nächsten Ausstellungen von Holger Kube Ventura. Und wer zufällig am 27. September in Frankfurt sein sollte, kann dort ab 18 Uhr eine etwas andere Wahlparty erleben.

Michael Backmund

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