Gefängnis der rigiden Moral
Gerhard Hauptmann ohne Naturalismus: Enrico Lübbe hat die Tragödie „Rose Bernd“ in einer überzeugend reduzierten Inszenierung auf die Bühne des Residenz Theaters gebracht
Ein gellender Schrei – dann rutscht ein Mädchen auf Knien die ganze Bühnenschräge hinunter, reißt dabei ein paar Wasserkübel um und bleibt hilflos zusammengekrümmt unten liegen. Mit einem eindrücklichen Bild beginnt Enrico Lübbes Inszenierung von Gerhart Hauptmanns „Rose Bernd“. Dem 35-jährigen Chemnitzer Schauspieldirektor gelang bei seinem Münchner Regiedebüt im Residenz Theater mit dem heute schwer umzusetzenden Sozialdrama ein voller Erfolg. Langer, heftiger Applaus, besonders für Lucy Wirth in der Titelrolle, Juliane Köhler und Thomas Gräßle.
Enrico Lübbe hat dem geschickt auf knappe anderthalb Stunden verkürzten Stück jeden Naturalismus verweigert. Die Tragödie des schönen Bauernmädchens Rose Bernd vollzieht sich auf einer weiten, offenen Schräge, leer bis auf einige Blecheimer, die Kirschernte und Landleben andeuten (Bühne: Hugo Gretler). „Tue Recht und scheue niemand“ steht an der Rückmauer geschrieben, die Maxime von Roses bigottem Vater (Ulrich Beseler). Der unerbittliche Religions- und Ehr-Fanatiker hat seiner Tochter den frommen, verklemmten August (Thomas Gräßle) als Mann zugedacht. Dass Rose ein Verhältnis mit dem Gutsbesitzer Flamm (Dirk Ossig) hat, weiß nur der schmierige, sexbesessene Streckmann (Marcus Calvin), der sie erpresst und Gerüchte streut.
Am Ende bleiben nur noch Meineid und Kindsmord
Jeder in dieser Dorfgesellschaft will seinen Status erhalten. Und Rose Bernd, die nichts anderes will als ein eigenes Leben, wird vogelfrei. Gehetzt von den Erwartungen der Männer, dem Mobbing, der rigiden Moral ihres Vaters und ihres Verlobten zerreibt sie sich, um die Wahrheit und ihre Schwangerschaft zu verbergen.
Den schlesischen Dialekt, den Hauptmann schrieb und der das Stück für unsere Ohren schwierig macht, münzt der Regisseur ohne dialektalen Tonfall um in eine trockene Kunstsprache, die man trotz ungewohnter Ausdrücke versteht. Die Schauspieler lässt er kühl und statisch spielen, stellt sie oft an die Rampe oder weit entfernt voneinander, isoliert und vereinzelt. Und doch entwickeln sie aus der strengen Reduzierung der Theatermittel eine packende Intensität. Vor allem Lucy Wirth als Rose Bernd zeigt eine kraftvolle Gefühlsbreite: Die Angst, die sie umtreibt, bricht die Stärke und den Lebensmut dieser jungen Frau immer mehr – bis sie in panischer Verwirrung keinen anderen Ausweg mehr sieht als Meineid und Kindsmord.
Eine Dulderin aus Kalkül
Helfen will ihr ausgerechnet Flamms Frau, die in der erkalteten Ehe sonst großzügig über die Seitensprünge ihres Mannes hinwegsieht. Seine Affäre mit Rose allerdings verletzt sie: Das Mädchen war für sie wie eine Tochter. Virtuos spielt Juliane Köhler in der Unterredung mit Rose diese kluge Frau, die souverän alles durchschaut: Eine Dulderin, die dennoch Verständnis zeigt, Rat und Unterstützung anbietet, allerdings mit gutem Kalkül. Sie möchte von Rose das Kind, das sie selbst nicht haben kann. Doch Rose verweigert aus Scham jedes Eingeständnis. Die Bitterkeit der Frau Flamm bricht sich dann in einer großen Abrechnung mit ihrem Mann Bahn.
Auch alle anderen Charaktere überzeugen. Vor allem Thomas Grässle erspielt dem bibeltreuen, körperlich beeinträchtigten Langweiler August eine anrührende Wahrhaftigkeit in seiner Liebe zu Rose, die ihn zum Märtyrer macht und schließlich zu echter, verzeihender Menschlichkeit führt.
Doch für Rose ist es zu spät. Noch einmal schlittert sie wie zu Anfang über die Bühne und rappelt sich mit letzter Kraft zum großen, anklagenden Aufschrei auf. Starker Schluss einer starken Inszenierung.
Gabriella Lorenz
Residenz Theater, noch am 10., 16. und 28. Juli, 20 Uhr, Karten unter Tel.218-1940
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