Flucht in die Esoterik
Der lettische Regiestar Alvis Hermanis inszenierte im Werkraum „Späte Nachbarn“ nach Geschichten von Isaac B. Singer: Ein Triumph für den Schauspieler André Jung
Die Inkontinenz lässt den alten Harry Bendiner nicht schlafen. Immer wieder wälzt er den massigen Körper aus dem Bett, schlurft schwerfällig ins Bad, blickt kurzsichtig auf den Wecker und guckt ganz dicht vor dem Fernseher „Tom und Jerry“. Mit dieser langen Szene beginnt die Uraufführung „Späte Nachbarn“ im Werkraum. Als Koproduktion der Kammerspielen mit dem Theaterfestival SpielArt inszenierte Alvis Hermanis zwei Erzählungen von Isaac B. Singer über alte jüdische Einwanderer in Amerika. Nach über drei Stunden begeisterter Jubel für einen fulminanten André Jung, seine Partnerin Barbara Nüsse und den lettischen Regiestar.
Der einsame Rentner Harry sortiert seine Post, trinkt Milch mit Cola, mampft Cornflakes aus der Packung, die er versehentlich auf den Boden leert. Doch plötzlich steht eine „Späte Liebe“ vor seiner vierfach verriegelten Apartment-Tür: die neue Nachbarin Ethel, eine platinblonde, perlenbehängte Witwe. Wie ein Storch tanzt Barbara Nüsse im rosa Kostümchen geziert und seltsam entrückt durch den Raum.
Bewegend und komisch
Wunderbar witzig zieht sie ihn zum Lunch in ihre rosa Wohnung, bemuttert ihn neckisch. Und er kann es nicht fassen, lacht nur vor Glück wie ein Narr. Doch ein Kuss verwandelt sie in eine gespenstische Greisin. Am nächsten Tag erhält er ihren Abschiedsbrief. Bewegend und komisch spielt André Jung Alter, Hoffnung und Trauer.
Ganz anders zeigt der Schauspieler den jämmerlichen Lebensversager Dr. Kalisher, der bei Mrs. Kopitzky auf „Die Séance“ wartet. Hermanis’ kongeniale Bühnenbildnerin Monika Pormale stopfte einen breiten, extrem flachen Guckkasten voll mit indischem Esoterik-Ramsch. Während Barbara Nüsse sich als gewichtige Wahrsagerin in Trance tanzt, stöhnt und gurgelt, schlägt Kalisher missmutig die Trommel und mümmelt Kekse. Er weiß genau, dass die Séance mit seiner einstigen Geliebten, die er nicht vor den Nazis gerettet hat, ein Betrug ist. Und versucht vergeblich, den grotesken Annäherungen der Wahrsagerin auszuweichen. Als er sich einnässt, gibt es kein Entkommen mehr: Sie zieht ihn aus, steckt ihn in einen riesigen Anzug und ergreift unwiderruflich Besitz von ihm.
Dass die Frauen in beiden Stücken so manieriert sind, irritiert etwas. Aber mit seiner Liebe zum Detail erzählt Alvis Hermanis zwei zutiefst menschliche Einsamkeiten, für die er in André Jung einen sensationellen Darsteller gefunden hat.
Gabriella Lorenz
Werkraum, 2., 15., 16. (alle ausverkauft), 30. 12., 19.30 Uhr, Karten: Tel.23396600
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