Es ging zu wie bei Tokio Hotel

Ein Literaturstar und seine Groupies: Daniel Kehlmann las in der Universität
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Ein Literaturstar und seine Groupies: Daniel Kehlmann las in der Universität

Es ist eine Lesung, aber offenkundig auch ein bisschen mehr. Das zeigt schon die Dimension der Veranstaltung: Welcher 34-jährige, deutschsprachige Schriftsteller füllt das Audimax der Uni mit seinen fast 1000 Plätzen außer Daniel Kehlmann?

Auch die vielen jungen Mädchen in den ersten Reihen deuten mit ihren tapfer durch Eis und Schnee getragenen tiefen Dekolletees an, dass es hier nicht nur um Bücher geht. Doch das Schöne an Kehlmann ist ja unter anderem, dass Kritikerhype, Massenphänomen und Sexappeal zusammenfallen können – und es trotzdem „keine Anzeichen für Kulturverlust gibt“, wie Moderator Knut Cordsen (Bayerischer Rundfunk) respektvoll brummte.

Kritikerchöre jubeln, nur die Heidenreich meckert

Erst wenige Wochen ist Kehlmanns Roman „Ruhm“ auf dem Markt, trotzdem wurde die Auflagenmarke von 250000 schon passiert. Wo Kehlmann ist, gerät die Literaturwelt in Aufregung: Sein Verlag (Rowohlt) verklagt momentan den „Spiegel“, weil der die Sperrfrist zur Rezension nicht eingehalten habe. Elke Heidenreich meckert, man solle den jungen Mann doch nicht so hysterisch beweihräuchern, während ganze Kritikerchöre seine formal so sehr perfekte Prosa in den Himmel loben und die „frühe Meisterschaft“des Autors besingen.

Kehlmann selbst, so ist zu vernehmen, findet es allmählich ziemlich doof, ständig als Wunderkind herumgereicht zu werden wo er sich doch längst im „fortgeschrittenen Erwachsenenalter“ fühlt. Trotzdem baut sein Verlag an diesem Abend einen Verkaufsstand von sagenhaften elf Metern Breite in den Lichthof der Uni, an dem auch die Jungs von Tokio Hotel hätten Autogramme geben können.

Die Frauen lieben ihn

Dann kommt ER ans Podium, ganz in Schwarz, wobei der Rollkragenpulli ein Doppelkinn eher unvorteilhaft betont, meistert die erheblich gestörte Mikrophonanlage, und liest „Rosalie geht sterben“, eine von den neun Episoden, die in „Ruhm“ zusammengeklammert werden. Ein absurdes Zwiegespräch zwischen einer dem Tod geweihten Romanfigur und ihrem Schöpfer, dem Autor.

Augenblicklich verfällt der Saal dieser perfekt die Sätze betonenden, nur manchmal in höheren Sprechlagen etwas sehr hell und tonlos wirkenden Stimme mit dem ganz leichten österreichischen Idiom. In der Geschichte geht es um den Tod und seine Unausweichlichkeit – so bitter und doch leicht und humorisch, dass man das unangenehm streberhafte an der Person des Vorlesers vergisst.

Ein paar Binsenweisheiten zwischendurch

Danach klopft Cordsen geschickt Kehlmanns Motiv- und Seelenlage ab. Nein, er wolle sich, sagt dieser eher augenzwinkernd, nicht an Paolo Coelho abarbeiten, auch wenn es an manchen Stellen von „Ruhm“ so wirke („Der von mir beschriebene Autor schreibt Ratgaber, also echte Ratgeber“). Und ja, Günter Grass hatte recht, als er ihm vor einiger Zeit prophezeihte, dass jetzt für ihn die Zeit beginne, „wo ständig alle mehr über Sie wissen als Sie selbst“.

Kehlmann verteidigt die Vergabe des Kleist-Preises an den von ihm vorgeschlagenen Max Goldt („Das man ihm seine brillante Komik vorhält, sagt viel über Deutschland aus“) und outet auf nachvollziehbare Art Rainald Goetz als Kollegenschwein. Und wie, Herr Kehlmann, geht es ihnen selbst mit dem eigenen Ruhm, fragt Cordsen listig. Stark gekürzte Fassung der Antwort: „Alle Fragen und Probleme, die mit Identität zu tun haben, werden durch Berühmtheit verstärkt. Erfolg kann, muss aber nicht, den Charakter ruinieren und ist fast immer schlecht für die Intelligenz. Misserfolg dagegen ruiniert den Charakter, ist aber gut für die Intelligenz.“

Nach der zweiten Geschichte schrieb Kehlmann fleißig mehrere hundert Widmungen am Tokio-Hotel-Tisch, dann gingen die Dekolletees wieder brav nach Hause.

Michael Grill

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